Inselkoller
auch
nicht hinreichende Bedingung, höhere und hohe Posten zu besetzen. Eigentlich gab
es überhaupt nur einen gescheiten Menschen in der Inspektion: ihn selbst. Er rieb
jedem seine Meinung bei passender und unpassender Gelegenheit unter die Nase. Seine
fachliche Kompetenz stand außer Frage, seine soziale Kompetenz in krassem Gegensatz
dazu. Waren Vorgesetzte zugegen, so vermochte ihn nichts davon abzuhalten, sie vor
den Kopf zu stoßen oder bloßzustellen. Dazu studierte er unermüdlich Vorschriften,
Ministerialerlasse, Durchführungsverordnungen etc. und führte die Anwesenden mit
seinem erlesenen Wissen vor. Er war darin äußerst fleißig. Jung vermied tunlichst
eine Diskussion mit ihm. Wenn er was von ihm wissen wollte, regte er ihn höflich
zu einem Vortrag an.
Jung sah ihm sein krankes Verhalten meistens
nach. Es war nicht zu übersehen, dass Endert körperlich litt. Er hatte einen Morbus
Bechterew, eine Art von Rheuma, die eine schleichende Wirbelsäulenverknöcherung
mit einhergehender Rückgratverkrümmung zur Folge hat. Er ging also gebeugt, von
Jahr zu Jahr mehr. Jung schätzte ihn, seit er vor etlichen Jahren Enderts Leitfaden
›Gerichtsmedizin für Kriminalbeamte‹ gelesen hatte. Er fühlte sich nach der Lektüre
nicht nur gut informiert, sondern hatte auch ein Lesevergnügen auf literarischem
Niveau gehabt.
»Ich muss zugeben, dass Holtgreve in der Tat
der Anlass meines Anrufs ist. Wissen möchte ich aber von Ihnen, ob Sie sich an den
Fall Mendel erinnern, die Strychnintote auf Sylt?«
»Ha, und ob ich mich erinnere. Das war mal
wieder ein Fall, wo sich unsere Vorgesetzten von ihrer allerbesten Seite zeigten.
Und das will schon was heißen, wenn Sie wissen, was ich meine. Die haben damals
unsinnigen Druck gemacht, von wegen schnellstmöglicher Aufklärung, Diskretion, Rücksichtnahme
auf höhere Interessen, Schonung der Privatsphäre und so weiter und so fort. Ich
möchte mal wissen, wer oder was da geschont werden sollte. Natürlich die Geldsäcke,
die den Hals nie voll genug kriegen können. Erst helfen unsere Herren von der Teppichetage
ihnen in die Steigbügel, und später kriechen sie ihnen in den Arsch. Wusst ich’s
doch, Holtgreve steckt hinter Ihrem Anruf.«
»Ich wollte etwas zu dem Gift von Ihnen hören.«
Jung ignorierte Enderts gesellschaftspolitische Tirade.
»Ja, ja, das war auch in dieser Hinsicht ein
Fall, den ich so schnell nicht vergessen werde. Zuerst war die werte Dame so fett,
dass die verkrampften Muskeln und Gliedmaßen unter dem Fettgewebe fast nicht auszumachen
waren. Aber im Gesicht sah ich schnell, womit ich es zu tun hatte. Mir war auch
gleich klar, dass sie das Strychnin nicht mit dem Essen eingenommen haben konnte.
Strychnin ist ein äußerst giftiges Alkaloid und das bitterste Zeug, das man sich
vorstellen kann. Hat man auch nur die Spur davon auf der Zunge, verpuffen Mord-
oder Selbstmordabsichten, wenn sie denn überhaupt da gewesen sind. Du kotzt das
Zeug in hohem Bogen aus, sozusagen reflexartig. Das Gift wurde ihr in Containerkapseln
appliziert. Von denen hatte sie allerdings reichlich im Magen. Nach der Auflösung
der Container im Magen verbleiben Spuren, in diesem Fall eher Berge, von Überzugsmitteln
zurück, wie Schellack, Glukose, Stärke. Aber das braucht Sie nicht weiter zu interessieren.
Mich hat das nicht verwundert, nachdem ich ihren täglichen Medikamentencocktail
kennengelernt hatte. Darunter war auch Vitamin C 300 von der Firma SoVita, die für
ihre Langzeitkapseln diese Container verwendet. Ich kann nicht mehr alles aufzählen,
aber meine feste Überzeugung ist, dass irgendwer oder sie selbst das Gift in die
Container verpackt hat. Entweder hat sie dieser Jemand unter die vielen anderen
Pillen geschmuggelt, die sie bei jeder Gelegenheit geschluckt hat, oder sie hat
sie sich selbst unter ihren Pillencocktail gemixt.«
Jung hakte ein. »Meinen Sie, sie hat sich selbst
umgebracht?«
»Das anzunehmen, ist nicht abwegig. Sie hatte
ohnehin nicht mehr lange zu leben. Das Herz hätte in absehbarer Zeit schlappgemacht.
Die Aufgabe, dieses Massiv am Leben zu erhalten, hätte auch ein jüngeres und gesundes
Herz vorzeitig in die Knie gezwungen. Sie hat davon gewusst, wie Sie dem Vernehmungsprotokoll
des Hausarztes entnehmen können. Übrigens ein Kollege aus Flensburg, merkwürdig,
nicht?«
»Und um ihren Leidensweg abzukürzen, hat sie
ihn mit eigener Hand beendet«, ergänzte Jung. Er ignorierte erst einmal den Hinweis
auf den Hausarzt und freute
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