Inselkoller
Hallgartener Mehrhölzchen,
Jahrgang 2002, von Söngen im Keller. Gut gekühlt ist der bei den Temperaturen da
draußen genau der Richtige.«
Boll und Jung waren beide große Bewunderer
der Rheingauer Rieslingweine. Sie hatten seinerzeit die Adressen ihrer bevorzugten
Weinbauern ausgetauscht und sich die eine oder andere Kiste mitgebracht, wenn es
sich gerade so ergeben hatte.
»Das ist ja wunderbar. Ich kann gegen 17 Uhr
bei dir sein. Stell nicht zu viele Flaschen kalt. Wir sollten bei klarem Verstand
sein, wenn ich dich in die Geheimnisse des Todes einer mysteriösen reichen Dame
einweihe«, machte Jung sein Anliegen etwas schmackhafter.
»Das klingt nach einem verdammt unterhaltsamen
Nachmittag, mein Lieber. Ich hoffe, du weißt, was du damit anrichtest. Ich erwarte
dich so gegen fünf, ja?«
»Gut, bis nachher.«
Jung legte den Hörer auf und lehnte sich in
seinem Stuhl zurück.
Die Kinder
Bevor sich Jung auf den Weg zu Boll machte, wollte er zu Hause Bescheid
geben, dass er heute später kommen würde. Er wählte die Nummer seines Anschlusses.
Das Telefon stand neben dem Computer mit Flatrate, und er konnte sicher sein, dort
seine Tochter an den Apparat zu bekommen. Nach dem ersten Signalton stand die Verbindung.
»Naoki.«
»Hallo, Cara, Papa hier.«
Seine Tochter Cara war gerade 16 Jahre alt
geworden und eine glühende Anhängerin der Visual-Kei-Bewegung. Die Mitglieder gaben
sich japanische Namen. Sie trafen sich in der Stadt zu Cosplay Meetings und schockierten
die Leute mit exotischer Aufmachung in Schwarz-weiß und gruseligem Make-up. Bleiche
Haut war Ausdruck echter Visual-Kei-Gesinnung. Sie mieden deshalb die Sonne wie
den Leibhaftigen. Cara gefiel sich als Gothic-Lolita mit schwarzer Netzstulpe an
rechter Hand und Unterarm, verschiedenfarbigen Kniestrümpfen und eingeflochtenen
schwarzen Haarteilen. Ihre Aufmachung erschreckte ihn. Er bemühte sich um Zurückhaltung
und Toleranz, musste sich aber eingestehen, dass ihm das schwerfiel.
»Papa, wie läuft das heute mit dem Essen? Mama
arbeitet in Husum und bleibt über Nacht, du weißt schon. Was gibt’s denn?«
So kannte er sie: Direkt und schnörkellos kam
sie zur Sache und hatte ihn erwischt. Die Abwesenheit seiner Frau hatte er vergessen.
Er konnte sein Treffen nicht absagen. Heute war die letzte Chance, bevor Boll in
den Urlaub fuhr.
»Deswegen rufe ich an. Ich habe heute eine
dringende Verabredung und weiß nicht, wann ich nach Hause komme. Ist Clemens bei
dir?«
»Ja, Clemens ist unten. Aber Papa, ich brauche
unbedingt deine Kreditkartennummer. In einer Woche tritt Moi dix Mois in Berlin
auf. Ich muss heute noch Karten übers Internet bestellen, sonst sind sie weg. Das
geht nur mit Kreditkarte. Papa, du weißt, wie wichtig mir das ist. Ich brauche jetzt
die Unterstützung meiner Familie.«
Wer zum Teufel ist Moi dix Mois? Und warum
sollte er seine Kreditkartennummer dem Internet anvertrauen, wo kriminelle Banden
ihre Schleppnetze danach auslegten? Jungs Unbehagen wuchs.
»Hat das nicht Zeit bis heute Abend, wenn ich
wieder zu Hause bin? Was kostet denn der Eintritt, und wie kommst du da hin und
wieder zurück? Wie stellst du dir das denn vor?«
»Papa, es ist dringend. Du begreifst den Ernst
der Lage nicht. Moi dix Mois ist die Kultband der Visuals und gastiert nur
ein einziges Mal in Europa. Meine Freundinnen aus Schweden und Hamburg kommen auch
nach Berlin. Ich muss da hin, verstehst du?«
Von den Freundinnen in Schweden und Hamburg
hörte er heute zum ersten Mal. Warum schaffte es seine Tochter immer wieder, ihm
ein schlechtes Gewissen zu machen und ihn unter Druck zu setzen? Er konnte diese
Diskussion nicht lange durchhalten, das wusste er. Er resignierte und erklärte seiner
Tochter seufzend, wo sie die Daten seiner VISA -Karte
finden konnte.
»Hol mir bitte Clemens an den Apparat.«
»Oh, vielen, vielen Dank, Papa, du bist doch
der Beste. Clemens ist gleich da. Tschüss.«
»Hallo Paps. Wann bist du zu Hause? Ich wollte
dich um das Auto bitten. Jessi ist um 18 Uhr in der Diako fertig, und ich will sie
abholen. Geht das?«
Clemens’ Freundin Jessika absolvierte ihr freiwilliges
soziales Jahr in der Diakonissenanstalt. Jung hatte den Eindruck, die beiden wären
schon länger verheiratet als er mit seiner Frau Svenja (sie hatten vor zwei Jahren
Silberhochzeit gehabt). Dabei waren sie erst 21 beziehungsweise 20 Jahre alt. Clemens
hatte seinen Ersatzdienst abgeleistet, und sie planten jetzt, zusammen in Freiburg
zu
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