Inselkoller
solange
man noch auf Distanz arbeitet. Ist man aber auf vermeintlich gleicher Höhe angekommen,
gibt es nur ein Entweder-du-oder-ich. Ich sage ›vermeintlich‹, weil Frau Bongard
eine uneingestandene Schwäche hatte, die sie nicht ablegen konnte. Sie war ordentlich,
geradezu penibel in der Verwaltungs- und Büroarbeit. Umso erstaunlicher war, dass
sie sich, wenn auch nur selten, grobe Schnitzer leistete, zum Beispiel Doppelbelegungen
von Ferienwohnungen ohne erkennbare Not. Meine Schwiegermutter sah ihr das nach.
Seit einem Autounfall mit anschließendem Schleudertrauma hatte Helga selten, aber
eben doch ab und zu diese verzeihlichen Aussetzer.«
Jung stutzte kurz, fragte aber gleich weiter.
»Und Ihre Schwiegermutter hatte keine derartigen
Fehler?«
»Nein, ihr Hirn arbeitete imponierend fehlerfrei.«
Nach einer kurzen Gedankenpause knüpfte sie
da an, von wo sie zu der Bongard’schen Schwäche abgeschweift war.
»Auffällig war eine Gemeinsamkeit: Beide konnten
ihre Arbeit und deren Ergebnisse nicht genießen.«
»Damit haben Sie als Nachfolgerin offensichtlich
kein Problem«, reagierte Jung spontan.
»Da haben Sie recht. Ich bin anders. Ich habe
nicht die Fähigkeiten meiner Schwiegermutter oder die von Frau Bongard. Ich habe
auch nie den Ehrgeiz gehabt, mit ihnen zu konkurrieren.«
»Aber Ihre Schwiegermutter sah sehr wohl, dass
Ihre Fähigkeiten für die Leitung ihres Imperiums ausreichten, sonst hätte sie Sie
ja nicht zu ihrer Nachfolgerin bestimmt.«
»Ja, auch das ist offensichtlich richtig. Ich
war, um ehrlich zu sein, selbst von ihrem Entschluss überrascht. Nicht, weil ich
mir den Job nicht zugetraut hätte, sondern weil ich von Anna den Eindruck hatte,
dass sie meinen Stil verabscheute. Aber es spricht für ihre Klasse, dass sie ihre
Emotionen von ihrer geschäftlichen Vernunft zu trennen wusste.«
»Die geschäftliche Vernunft, worin bestand
die in diesem Fall?«
»Erstens: Das Vermietungsgeschäft ist auf Sylt
beinahe ein Selbstläufer, vorausgesetzt, Sie haben einen guten Ruf und bieten exzellenten
Service. Beides kann ich vorweisen. Der Hauptanteil unseres Gewinns stammt aus diesem
Geschäft. Zweitens: 80 Prozent der Klientel im Immobiliengeschäft, die hier in mein
Büro kommt, sehe ich einmal und nie wieder. Mit den verbleibenden 20 Prozent mache
ich auf meine Art gute Geschäfte. Beides zusammen reicht aus, uns geschäftlich gut
zu fühlen.«
»Uns, das sind Sie und Ihr Mann, nicht wahr?«
»Darauf habe ich schon gewartet, dass Sie nach
ihm fragen, vor allem danach, wie er mit der neuen Konstellation zurechtkommt. Am
besten fragen Sie ihn selbst. Er wird bald hier sein. Aus meiner Sicht kann ich
Ihnen nur sagen, dass sein Anteil an unserem Erfolg nicht hoch genug einzuschätzen
ist, selbst wenn er ihn fast ausschließlich im Poloklub erbringt. Aber seine kommunikativen
Fähigkeiten bei der Anbahnung neuer Verbindungen und Geschäftsabschlüsse sind Gold
wert.«
Jung wollte die Ankunft ihres Mannes abwarten,
um in dieser Richtung weitere Aufklärung zu erlangen. Er lenkte das Gespräch auf
seine Eingangsfrage zurück.
»Können Sie mir über das hinaus, was Sie mir
schon erzählt haben, noch etwas zu Ihrer ganz persönlichen Beziehung zu der Toten
sagen?«
»Nun ja, oder besser nein, da gibt es weiter
nichts zu sagen.«
»Ich verstehe: De mortuis nihil nisi bene [12] «, kam es ihm unvermittelt über die Lippen.
»Ja, da ist etwas dran.« Jung registrierte
verwundert, dass sie auf sein Zitat wie selbstverständlich reagierte. Er sah sie
bittend an.
»Es widerstrebt mir einfach. Aber wenn es denn
sein muss: Ich ekelte mich vor ihr, vor ihrem Körper und ihrer Sucht, alles und
jeden zu dominieren. Ich war dagegen allergisch. Auf der geschäftlichen Ebene hatte
ich damit keine Probleme, schon allein deswegen, weil sie körperlich immer seltener
anwesend war, und ich ihre berufliche Dominanz akzeptierte. Aber privat war ich
dazu nicht bereit. Etiam si omnes – ego non [13] «, schloss sie und lächelte ihm offen ins Gesicht.
Jung fühlte Sympathie in sich aufkommen. Seine
anfängliche Befangenheit begann sich langsam aufzulösen und einem bewundernden Erstaunen
Platz zu machen. Er ermahnte sich zu beruflicher Distanz. Schließlich hatte er einiges
gehört, was bei kritischer Betrachtung für die Rekonstruktion des Tathergangs von
Belang sein konnte. Gleichzeitig konnte es auch gänzlich bedeutungslos sein. Wie
waren zum Beispiel die Aussetzer von Frau Bongard zu bewerten? Wie
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