Inselkoller
wirkten sie sich
auf ihre Erinnerungsfähigkeit aus? Welchen Wert durfte er unter diesen Umständen
ihren Erzählungen beimessen? Jung sah eine Menge Arbeit auf sich zukommen.
»Bei unseren Ermittlungen sind wir von höchster
Ebene um Diskretion, Verschwiegenheit und Lautlosigkeit gebeten worden«, nahm Jung
das Gespräch wieder auf. »Diese Bitte hatte eher den Charakter einer Drohung. Ich
habe dafür keine plausiblen Gründe finden können, die über das Maß des sowieso Wünschenswerten
hinausreichen. Haben Sie dafür eine Erklärung?«
»Oh ja, das wundert mich nicht.«
»Warum?«
»Meine Schwiegermutter war auf der Insel und
auch darüber hinaus berüchtigt für ihre Nüchternheit und Illusionslosigkeit. Manchmal
kam sie mir sogar gewollt brutal vor.«
»Wie muss ich mir das vorstellen?«
»Sie verkündete, wo immer es ihr gefiel, dass
Sylt dabei ist unterzugehen. Natürlich auch das ganze Geld, das auf der Insel investiert
wird und investiert worden war und das noch Gewinn bringen sollte. Dies sei keine
Frage des Ob, sondern nur eine Frage des Wann.«
»Das machte sie hier nicht gerade beliebt,
nicht wahr?«, bemerkte Jung.
»Nein, das hört hier keiner gerne. Aber sie
hatte gute Gründe für ihre Haltung.«
»Und die wären?«
»Die häufiger und heftiger ausfallenden Sturmfluten
und die häufiger und heftiger auf die Insel rollenden Touristenströme.«
»Dagegen könnte man Maßnahmen ergreifen.«
»Das ist ja der Punkt. Gegen die Naturgewalten
hat man sich bis jetzt durch Strandaufspülungen und Küstensicherungsmaßnahmen zu
schützen versucht. Die Kosten, immerhin zweistellige Millionenbeträge pro Saison,
werden von Jahr zu Jahr höher, der Effekt immer geringer. Gegen die zweite Flut
versucht man, sich durch ein künstlich hochgehaltenes Preisniveau zu schützen. Dieser
Schutz wird zunehmend unterlaufen und bricht langsam zusammen.«
»Ihre Schwiegermutter und Sie scheint das nicht
beeindruckt zu haben, jedenfalls bleiben Sie und machen weiter«, bemerkte Jung.
»Sie haben recht. Wir bleiben, so lange wir
können. Aber das gesellschaftliche Leben auf der Insel, wenn ich es mal so ausdrücken
darf, bestimmt immer mehr der Geldadel der dritten Reihe aus dem Ruhrpott, aus Hamburg
und Berlin. Er versucht, sich hier als Nachfolge der alten Eliten zu etablieren.
Seine Anstrengungen treiben ihn zuweilen bis zur Groteske, unter anderem durch die
Ignoranz aller Fakten, die die alten Eliten schon längst von der Insel verscheucht
haben. Es gibt schon seit Jahren, und in letzter Zeit immer mehr, wohlhabende Inselliebhaber,
die ihre Häuser auf Sylt verkaufen. Meine Schwiegermutter hat ein solches Haus übernommen.
Jetzt wohnen mein Mann und ich darin.«
»Aber wer übt denn nun Druck aus? Wo liegen
die Beweggründe? Wer befürchtet da was?«, insistierte Jung.
»Ich will es Ihnen gerade erklären. Die Syltlobby
hat es immer schwerer, bei der Regierung in Kiel die Gelder für den Erhalt der Insel
zu begründen und lockerzumachen. Und die Köder, der Glamour, die Exklusivität, die
prominenten Namen, das investierte Geld und die Wirtschaftskraft der Insel werden
selbst für eitle und für Köder empfängliche Politiker immer fadenscheiniger und
schwerer vermittelbar.«
»Das ist doch kein Grund.«
»Das allein nicht, aber im Zusammenhang mit
dem Mord an meiner Schwiegermutter wäre all das und natürlich auch ihre Überzeugung
den Untergang der Insel betreffend mit Sicherheit Gegenstand einer genüsslich ausgewalzten
Berichterstattung in den Medien gewesen.«
»Das soll schon alles sein?«
»Unterschätzen Sie es nicht. Man hätte wilde
Spekulationen darüber angestellt, ob ihre Einstellung nicht ein Mordmotiv hätte
sein können. Geschäfte, Firmen, Gegner, Lobbyisten, Profiteure und vor allem deren
Namen wären bekannt geworden. Die eingesetzten, horrenden Steuergelder, die handelnden
Politiker, alles wäre in einer nach Sensationen gierenden Öffentlichkeit breitgetreten
worden.«
»Und daran hat natürlich keiner von denen ein
Interesse.«
»Richtig, und entsprechend machen sie ihren
Einfluss geltend.«
»Wenn man genügend Einfluss hat und kein anderer
gleich starker entgegensteht. Aber daran scheint es offensichtlich zu mangeln.«
»Ja, so muss man es wohl sehen«, schloss Karin
Mendel das Thema ab. Sie sah auf ihre kostbare Uhr.
»Mein Mann müsste eigentlich schon hier sein.
Wir hatten uns verabredet, um mit Ihnen zu sprechen. Sie entschuldigen mich.«
Sie erhob sich und verschwand
Weitere Kostenlose Bücher