Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Inselkoller

Inselkoller

Titel: Inselkoller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Pelte
Vom Netzwerk:
werfen, an
dem meine Mutter bis zu ihrem Tod gelebt hat. Vielleicht hilft Ihnen das weiter«,
lächelte er Jung zu.
    »Haben Sie ein Fahrzeug auf der Insel?«
    »Nein, ich bin mit der Bahn gekommen.«
    »Ich pick Sie gegen halb sechs vor dem Hotel
›Stadt Hamburg‹ auf. Wissen Sie, wo das ist?«, fragte Mendel Jung.
    »Ja, ich glaube in der Nähe des Bahnhofs. Ich
werde dort sein.«
    »Gut, bis dann. Tschüss, Karin. Ich freue mich
auf heute Abend.«
    Er warf seiner Frau einen liebevollen Blick
zu und verließ das Büro.
    Jung fühlte sich überfahren, ohne dass es ihn
ärgerte.
    »Ich glaube, ich geh besser. Sie haben zu arbeiten,
und heute Abend ist ausreichend Gelegenheit zum Reden«, wandte er sich an Karin
Mendel.
    »Sie sind gar nicht wie ein Polizist«, erwiderte
sie nachdenklich.
    »Wie ist denn ein Polizist?«, fragte Jung erstaunt
zurück.
    »Na ja, wie soll ich sagen? Ich werde jetzt
mal privat, sozusagen off records.«
    »Das ist ja interessant«, unterbrach er sie
mit dem ersten Lächeln auf den Lippen an diesem Nachmittag.
    »Ihre jüngeren Kollegen hatten den Charme von
Reißzwecken und bemühten sich eher, wie Schimanski zu sein, vor allem so auszusehen.
Ihre Bierfahnen sind mir in unguter Erinnerung.«
    Jungs Lächeln erstarb. Er sah ihr in die graublauen
Augen. Er hätte lieber geschwiegen, konnte sich aber nicht zurückhalten, auf ihre
Bemerkung einzugehen.
    »Ich bitte Sie, sich in unsere Lage zu versetzen.
Tagaus, tagein waten wir in den Niederungen dieser Gesellschaft, arbeiten für unseren
Lebensunterhalt unter dem Dauerfeuer krimineller Energien, lernen, wie Geld gemacht
wird, und vergleichen damit unsere Arbeit und unseren Lohn. Wir sollen Recht und
Ordnung schützen und erleben, dass Recht und Ordnung nur für die gelten, die sich
davon nicht freikaufen können. Wir erleben, wie Politiker ihre Zusagen an die Polizei
einkassieren, als hätten sie sie nie abgegeben, während sie gleichzeitig die Erhöhung
ihrer Diäten beschließen. Ich könnte beliebig lange in diesem Stil fortfahren. Wie,
glauben Sie, fühlt man sich dabei? Welche Wirkung hat das auf uns? Da scheint mir
ein Glas Bier zum Mittagessen nicht weiter erwähnenswert.«
    Während seiner Rede hatte er sich zunehmend
echauffiert und registrierte erstaunt, dass er zum ersten Mal – soweit er sich erinnern
konnte – seine Kollegen, die er früher gerne in die Pfanne gehauen hatte, vor Fremden
in Schutz nahm.
    »Was Sie sagen, gilt für alle anderen auch,
zum Beispiel für Krankenschwestern. Würden Sie sich gerne von einer Krankenschwester
behandeln lassen, die nach Bier riecht?«
    Jung wollte diesem Einwand nichts entgegensetzen.
Aus ihrem Mund klang er hohl, wenig überzeugend, fast unanständig. Er hätte es lieber
gesehen, wenn sie geschwiegen hätte.
    »Vielen Dank für Ihre Einladung. Ich freue
mich. Bis dann«, verabschiedete er sich.
    »Gern geschehen. Ich freue mich ebenfalls.«
    Sie sah ihn nachdenklich an und geleitete ihn
bis zum Ausgang.
    Draußen trieb es ihn trotz des noch immer starken
Westwindes an die Strandpromenade. Er setzte sich auf eine Bank, die vom Kot der
Möwen noch nicht übersät war. Was machte er hier eigentlich? Was sollte das ganze
Gefrage? Was wollte er denn da herauspopeln, das ihm half, den Tod einer fetten
Frau aufzuklären?
    Er gestand sich ein, dass er auf eine Weise
beeindruckt war, die ihn unsicher machte. Er war es gewohnt, unter glatten Oberflächen
Abgründe zu finden: je glatter, desto tiefer. Aber hier? In seinem Innern sträubte
sich etwas gegen seinen latent vorhandenen Dauerverdacht und den Antrieb, gerade
da unnachgiebig zu sein, wo sich alles so gefällig und glatt darstellte. Er fühlte
sich an einer Stelle berührt, die zu verbergen er unter Schmerzen gelernt hatte.
Er schätzte dennoch deren Wert und Vitalität, aber seine Möglichkeiten und Kräfte
waren stets überfordert gewesen, wenn er den Einflüsterungen dieser Quelle gefolgt
war. Touché, seine Sehnsucht nach der heilen Welt war berührt worden. Er lachte
innerlich und verfiel augenblicklich darauf, kritische Einwände zu erheben. Wie
sähe wohl eine Welt aus, in die das Heil eingekehrt war? Er hätte keinen Job mehr.
Die ganze Kriminalliteratur wäre nicht nur überflüssig, sondern einfach nicht da.
Das Gleiche gälte für das Kino. Und so weiter und so fort. Es wäre unvorstellbar
langweilig. Einfach lächerlich. Sieh lieber zu, dass du mit der Wirklichkeit besser
klarkommst, ermahnte er sich. Was zum Beispiel hatte

Weitere Kostenlose Bücher