Inselkoller
Mutterliebe bezeichnen, mein Guter«, mischte sich seine Frau ein.
»Ja, du hast recht, diese Ansicht ist verbreiteter,
als es wünschenswert ist. Aber grob gesprochen ist es eine fortwährende Vergewaltigung
mit entsprechend schrecklichen Folgen.«
»Das ist hart«, stellte Jung fest und nahm
einen kräftigen Schluck Tee aus seiner Tasse.
»Ja, das ist es. Aber erst, als ich mir gestattete,
es so zu sehen, war ich in der Lage zu tun, was ich wollte.«
»Wie hat Ihre Mutter darauf reagiert?«
»Das hat mich nicht mehr interessiert.«
»Warum haben Sie nicht nach Ihrem Wirtschaftsstudium
Tiermedizin studiert?«
»Ich hatte den akademischen Unibetrieb ja kennengelernt,
und ich musste mir eingestehen, dass ich froh war, ihm entronnen zu sein.« Mendel
reichte seiner Frau den Schinken.
»Vielleicht hätte sich Ihre Einstellung geändert,
wenn Sie Ihren Wunschtraum hätten verwirklichen können?«
»Das glaube ich von mir nicht. Der akademische
Betrieb war für mich an erster Stelle ein Jahrmarkt der Eitelkeiten. Je ineffektiver
und unverständlicher die Akteure, desto größer ihr Ruf als Kapazität.«
»Eitelkeiten spielen überall eine herausragende
Rolle«, meinte Jung.
»Das ist sicherlich richtig. Nur hier, in der
selbst ernannten und gefeierten Gralsburg von Rationalität und Vernunft, wirkt Eitelkeit
besonders verlogen und richtet im Übrigen auch großes Unheil an.«
»Da ist was dran«, räumte Jung ein.
»Wer nicht da war, der forschte intensiv. Wer
länger nicht da war, forschte intensiver und durfte nicht gestört werden. Im Übrigen
kam es darauf an, viel auswendig lernen zu müssen. Das ist nichts für mich.«
»Möchten Sie noch etwas Tee, Herr Jung?«, fragte
Karin Mendel.
»Ja, gern.« Jung reichte ihr seine Tasse hinüber.
»Sie hätten auch nach Amerika gehen können.«
»Glauben Sie denn, da ist es besser? Der Unterschied
besteht darin, dass der Unibetrieb dort drüben unter dem Druck steht, was Nützliches
abliefern zu müssen, auch wenn’s nur akademische Würden für Kinder reicher Sponsoren
sind. Wenn nicht, wird die Kohle gestrichen. Das fängt bekanntlich in Deutschland
auch langsam an.«
»Dennoch bringen die Unis – wo nun auch immer
– kluge Köpfe hervor«, wandte Jung ein.
»Die müssen Eigenschaften haben, die mir fehlen.
Ich beneide sie nicht darum.«
»Ja. Kommen wir wieder zu Ihrer Mutter«, lenkte
Jung das Gespräch auf das eigentliche Thema.
»Wie gesagt, ich war ihr dankbar, dass sie
sich später so arrangiert hat. Es hätte auch anders kommen können. Das wäre mir
egal gewesen. Aber Dankbarkeit ist keine Grundlage für eine gute Beziehung.«
»Was ist es dann?«
»Liebe.«
Jung war verblüfft und gleichzeitig gerührt.
»Welche Liebe meinen Sie?«
»Die aus dem ersten Brief des Paulus an die
Korinther, Kapitel 13«, antwortete Jürgen Mendel kurz angebunden.
»Ich wusste gar nicht, dass du zu den Bewunderern
Mutter Teresas gehörst«, ließ sich seine Frau vernehmen.
Er schmunzelte.
»Das wirst du erst wissen, meine Liebe, wenn
du so alt geworden bist wie sie und wir immer noch zusammen sein sollten. Aber Spaß
beiseite, meiner Mutter konnte ich nicht mehr entgegenbringen, als ich es tat. Und
das war nicht viel. In letzter Zeit tat sie mir öfter leid. Das hat aber an meiner
Einstellung und an meinem Verhalten nichts geändert.«
»Und Ihr Bruder? Ist er gerne, was er ist?«
Jung fielen seine Fragen zunehmend schwer.
»Mein Bruder ist schwul. Sie hat ihm das nie
verziehen, obwohl sie sich nach außen tolerant gab. Meiner Meinung nach glaubte
er, aus dieser Klemme nur herauskommen zu können, indem er ihr bewies, wie erfolgreich
er sein konnte. Und er war erfolgreich, aber sein Erfolg bekam ein Eigenleben, und
meine Mutter verblasste zusehends. Zuletzt mochte er sie nicht mehr sehen. Ihr Anblick
beleidigte ihn. Seine ästhetische Empfindsamkeit wurde einfach zu stark verletzt.«
»Und Ihr Vater? Haben Sie zu ihm Kontakt?«
»Meine Mutter hat ihn abserviert wie einen
Lakaien. Er hat sich das gefallen lassen. Wir waren damals klein. Sie hat auch den
fehlenden Vater gut zu erklären gewusst. Unser, und übrigens auch sein Interesse,
hielt und hält sich in sehr engen Grenzen.«
»Und jetzt?«
»Er imponiert mir nicht, selbst wenn er meine
Mutter schlecht aussehen lässt. Ich vergeude nur meine Zeit, wenn ich den ollen
Kamellen nachsteige. Er ist einfach unwichtig.«
»Sie sind sehr offen, obwohl ich fremd bin
und in dem mutmaßlichen Mord an Ihrer
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