Inselsommer
ich, wie kalt es war. Da ich viel zu aufgewühlt war, um rational zu handeln, hatte ich den Mantel an der Garderobe hängen lassen.
Doch das alles interessierte mich nicht.
Alles, was ich wollte, war, einen Moment mit Vincent allein zu sein.
Als er mir sein Jackett um die Schultern legte und mich neugierig ansah, fühlte ich mich wie ein kleines Kind, das beim Naschen ertappt worden war. Und deshalb wusste ich auch nicht, was ich antworten sollte, als er mich fragte: »Na, was gibt es denn so Dringendes?«
Hätte ich sagen sollen: »Mir ist gerade klargeworden, dass ich mich in dich verliebt habe. In dich und deine süße kleine Tochter?«
Mit jedem Kilometer, den sich der Zug seinem Ziel näherte, versank ich tiefer in die Erinnerung an jenen Abend, an dem Vincent mich zum ersten Mal umarmt hatte.
Anstelle einer Antwort lehnte ich mich an seine Brust, und wir schmiegten uns eine Weile aneinander. Es war so ein wunderbares Gefühl, die Nähe des anderen zu spüren, wie ein besonderes Geschenk, von dem man nicht weiß, ob man es behalten darf. Für einen Augenblick kam es mir so vor, als würde ich die Welt, in der ich normalerweise lebte, verlassen und mit dem Feuer spielen. Noch Stunden und Tage später glaubte ich den Duft und die Wärme von Vincents Haut zu verspüren.
Und ich wusste, dass es ihm genauso ging.
Mühsam versuchte ich mich wieder auf das Hier und Jetzt zu besinnen, und starrte unschlüssig auf das Handy. Vielleicht war die SMS ja wirklich von Vincent? Obwohl wir vereinbart hatten, während meiner Auszeit auf Sylt weder zu telefonieren noch zu simsen, konnte ich nicht leugnen, wie sehr er mir jetzt schon fehlte und ich beinahe jede freie Minute an ihn dachte. Zuletzt siegte jedoch die Neugier, und ich las die Nachricht:
Pass auf dich auf, und lass dich treiben. Du hast so hart gearbeitet und solltest dich richtig erholen.
Ich warte auf dich, mein Schatz.
Patrick
2 . Kapitel
W ährend in meinem Innersten ein emotionales Durcheinander herrschte, rollte der Zug vom Hindenburgdamm und erreichte Sylt. In der Ferne erblickte ich einen Turm, der die Landschaft überragte. Dies war also St. Severin, das Wahrzeichen Keitums.
Die Nord-Ostsee-Bahn fuhr weiter Richtung Westerland, und ich bestaunte die Kirche mit dem roten Turm und die vorüberziehende Landschaft. Ich sah weidende Schafe und Kühe und Pferde, die mit wehender Mähne über die Koppeln galoppierten. Sylt, die
Insel der Schönen und Reichen.
Die Insel der Partys und Galas im Blitzlichtgewitter der Boulevardpresse, des legendären Strandrestaurants Sansibar, Wohnsitz unzähliger Prominenter. Im Licht des eher grauen Apriltages wirkte sie alles andere als glamourös, insbesondere je weiter sich der Zug der Endstation näherte.
Ich schmunzelte über den Werbeslogan
Schlafen könnt ihr auch auf Amrum!,
der für ein koffeinhaltiges Getränk warb und die Fassade eines Getränkemarkts zierte. Doch das anfängliche Schmunzeln wich schnell einem gewissen Entsetzen, als auf einmal ein hässlicher Bau nach dem anderen mein Blickfeld trübte. Irgendwie war ich nicht darauf vorbereitet, dass auf dieser angeblich so idyllischen Insel Discounter mit ihren grellen Firmenschildern den Anblick der nordfriesischen Landschaft verschandelten.
»Erschreck nicht, wenn du aus dem Bahnhof kommst und plötzlich vier giftgrünen Skulpturen gegenüberstehst«, hatte mein Mann Patrick mich gewarnt, bevor sich am Altonaer Bahnhof die Tür der Nord-Ostsee-Bahn hinter mir schloss.
Ich ließ meinen schweren Koffer stehen, um die
Reisenden Riesen im Wind
zu bestaunen, die seit 2001 den Bahnhofsvorplatz schmücken und von Anfang an heftigste Diskussionen ausgelöst haben. Natürlich war ich als Galeristin amüsiert über den hintersinnigen Witz, mit dem der Künstler Martin Wolke seine Figuren erschaffen hatte.
Nachdem ich genug gesehen und Fotos gemacht hatte, rollte ich meinen schweren Koffer über das Pflaster. Das Hotel war nur fünf Minuten Fußweg vom Bahnhof entfernt, deshalb hatte ich das Angebot abgelehnt, von einem Shuttle abgeholt zu werden.
Zu Beginn der Friedrichstraße entdeckte ich ein weiteres Kunstwerk, das die Gemüter erhitzte: die gusseiserne Skulptur
Wilhelmine,
die rundlich und obenrum üppig bestückt in einem Brunnen saß und den Betrachter keck anlächelte. Ganz so, als wollte sie sagen: »Na, da guckst du, was?«
Ich guckte in der Tat, doch nicht allzu lange, da der rauhe Wind mir die Mütze vom Kopf riss.
Ein grauer Himmelsteppich lag
Weitere Kostenlose Bücher