Inselwaechter
Ausflugsdampfern bildeten sich Menschentrauben. Alle Fahnenmasten waren aufgezogen und eine leichte Brise wischte über die Stoffe. Die Stadt heizte sich allmählich auf.
Die Durchsuchung der beiden Hotelzimmer hatte nichts Neues erbracht. Trotzdem lag eine Plastiktüte mit Kleidungsstücken in Schielins Büro. Grohm hatte gewütet – gegen die Polizisten, gegen die Hotelangestellten, wer immer ihm begegnete, wurde Adressat seines Zorns. Von dem gelassen-arrogant reagierenden Dr. Helmut Grohm, so wie er in den ersten Gesprächen aufgetreten war, hatten die Aufregungen der letzten Tage nicht viel übrig gelassen. Schmerzlich wurde ihm deutlich, dass sich Melanie Schirr und Claire Wilms von ihm fernhielten. Er wusste nicht wohin mit seinem Grimm. Noch nie hatte ihn so etwas berührt.
Kimmel war, nachdem ihn Schielin über den stagnierenden Stand der Dinge informiert hatte, schweigend in Gommis Büro gegangen, hatte Hundle die Leine angelegt und war, ohne ein Wort zu verlieren, in Richtung Schloss Moos verschwunden. Die Besprechung musste warten. Jasmin Gangbacher war mit Schielins Auftrag zur Überprüfung seiner gestrigen Ermittlungen fertig und schon mit den Notizen befasst, die er im Kanuclub gemacht hatte. Sie wusste gar nicht wohin mit ihrer Aufregung, denn bei der Überprüfung eines der Autokennzeichen der Gäste war sie auf eine brennend heiße Verbindung zum Fall gestoßen. Die Besprechung konnte ihr nicht schnell genug beginnen.
Erich Gommert brühte Kaffee auf und jammerte etwas von ödipaler Seelennot.
Sie hatten noch genügend Zeit, bis das Schiff mit Melanie Schirr aus Wasserburg ankommen würde. Kimmel hatte der Spaziergang mit Hundle gutgetan. »Dohmen«, warf er in die Runde und sah ernst auf seinen Notizblock, »der Anwalt fordert die Freilassung.«
»Seine Aussage deckt sich mit dem, was unser Zeuge, dieser Zychner, angegeben hat. Wir werden ihn nicht länger festhalten können«, sagte Schielin.
»Super. Und wie geht es dann weiter?«
»Mit Grohm«, erklärte Schielin selbstsicher.
»Mit Grohm? Den habt ihr doch gerade wieder nach Hause geschickt. Gibt es da Neuigkeiten?«
Schielin deutete auf Jasmin Gangbacher, die auch sofort loslegte. »In den Unterlagen von Agnes Mahler befanden sich einige Dokumente, die mir nicht sonderlich interessant vorkamen, weil ich sie mit ihrer Tätigkeit in Zusammenhang brachte. Zum Beispiel war da eine aktuelle Sonderauswertung des Gesundheitsreports der Techniker Krankenkasse, die ergeben hat, dass sich das Volumen von Antidepressiva-Verschreibungen für deutsche Berufstätige in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat.«
Kimmel schnaufte laut. Er wurde nervös. Jasmin Gangbacher ließ ihn leiden. Er war es schließlich, der immer predigte, dass man in dem Job zuhören können muss. »Die Pharmahersteller – es sind auch viele kleine auf dem Markt unterwegs – stehen unter großem Druck, ihre Medikamente so rasch wie möglich auf den Markt zu bekommen. Und dazu sollte die Testphase für ein neues Medikament so effizient wie möglich sein – das heißt: kurz und billig. Für diese Testphasen werden oftmals Menschen als Probanden rekrutiert, die die Risiken gar nicht abschätzen können. Vor nicht langer Zeit hat zum Beispiel eine Firma SFBC International, die Millionen mit Auftragsforschung verdient, Medikamententests an illegal in die Staaten eingereisten Menschen durchgeführt. In einem alten, maroden Hotelkomplex in Florida wurden über dreihundert Patienten behandelt.«
Kimmel winkte Gommi zu, ihm Kaffee nachzuschenken.
»In Agnes Mahlers Unterlagen wird ein Fall beschrieben, bei dem es zu Suiziden kam. Ein 27-Jähriger tötete sich mit mehreren Messerstichen selbst, während er das Psychopharmakon Seroquel testete. Und eine 19-jährige Frau erhängte sich, während sie für den Konzern Eli Lilly an einer Testreihe für Antidepressiva teilnahm und in Großbritannien sind vor einigen Jahren sechs junge Männer nach der Einnahme des Präparates TGN 1412 der Würzburger TeGenero AG schwer erkrankt – zwei waren nach multiplem Organversagen sogar in Lebensgefahr. Das Medikament sollte gegen multiple Sklerose eingesetzt werden. Die betroffenen Probanden erhielten so um die zehntausend Euro Entschädigung. Weit größere Dimensionen hatte der Fall des Pharmariesen Pfizer. Die haben während einer Meningokokkenepidemie in Nigeria ein Antibiotikum an Hunderten Kindern getestet, ohne dass die Eltern ausreichend darüber informiert wurden. Elf Kinder
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