Inselwaechter
hatte. Er ließ das Rad laufen ohne zu bremsen. Ein einsames Auto kam ihm entgegen. Die Scheinwerfer blendeten bereits nicht mehr, so viel Dunkelheit war schon getilgt. Er wählte den kurzen Anstieg hinauf zu den Kreisverkehren in Aeschach, um etwas Wärme in die Muskeln zu bekommen. Von dort oben ging es steil hinunter zum Bahnübergang. Entlang des Aeschacher Ufers war die Stille dann noch präsenter. Nur der See war zu hören, mit seinem ewigen Rauschen. Sanft klang es an diesem frühen Samstagmorgen. Nur wenige Male begleitet vom kurzen Schrei einer Möwe, oder dem erschrockenen Quaken einer Ente. Walter Zenger war ganz in Gedanken versunken: Ein Glück sei es gewesen, dass man ihn so schnell gefunden habe und er müsse dankbar dafür sein.
Diese Worte, so oder in Varianten, hatte er oft gehört in den letzten Wochen und Monaten, und anfangs machten sie ihm ein schlechtes Gewissen, denn er empfand keine Dankbarkeit demgegenüber, was ihm geschehen war. Jetzt allerdings, in dieser Stunde, war er von Herzen froh, voller Entzücken und ganz als Mensch auf dieser wunderbaren Welt. Mit der Dankbarkeit tat er sich allerdings schwer. Wie war man dankbar dafür, ein lebender Mensch zu sein? Dadurch, dass man genoss, was einen umgab, wenn es denn zum Genuss geeignet war?
Am Alpengarten angekommen, der rechts des Weges im Schatten der alten Villen lag, drang der so helle wie harte Klang der Schrankenglocken durch den werdenden Morgen. Es war noch zu früh, als dass jemand durch das Schlagen der Glocke hätte in drängende Eile versetzt werden können. Das würde sich am Vormittag ändern, wenn sich die Menschen an den Schrankenarmen sammelten und, in gleichem Maße unruhig wie ungeduldig, darauf warteten, weiterzukommen. Diese Schranke war in ihrer Grausamkeit gerecht, kannte weder Jung noch Alt, Arm noch Reich. Warten mussten alle. Und man stand manchmal lange. Für Zyniker könnte es ein unterhaltsamer Ort sein, an welchem zu studieren war, was das Warten als solches mit Menschen anstellen konnte.
Walter Zengers Ziel lag in nächster Nähe zu den Schienen, die entlang des Bahndamms hinüber zur Insel führten.
Er öffnete das Eisentor zum Kanuclub hin und lehnte das Rad an die Holzwand des Gebäudes. Die mächtigen Linden, die der alten Ufermauer Halt gaben, ruhten noch. Kein Blatt rührte sich. Von Osten her schimmerte ein zartes Rosa durch das finstre Geäst.
Er ging zur hinteren Türe, schloss sie auf und trat in das Dunkel des Bootshauses. Einige Sekunden blieb er stehen und wartete, dass seine Augen sich an das Düstere gewöhnten. Es roch nach Trockenheit, Holz und Vergangenheit. Die ausgetretenen Stufen der groben Treppe, die nach oben zu den Spinden führte, knarrten immer noch nicht. Sein Vater war dabei gewesen, als sie den Holzschuppen von der Insel hierher an das Aeschacher Ufer verlegt hatten. Jedes Brett, jede Bohle war gekennzeichnet und am neuen Platz wieder errichtet worden.
Schon als Kind war er die Sommer über hier gewesen und hatte gelauscht, wenn die Alten davon erzählten, was beim Umzug alles gut und was schiefgegangen sei. Die immer wieder gleichen Geschichten, die er bald auswendig konnte und denen er gerne etwas hinzugefügt hätte, wenn einer von ihnen, nach einem Bier zu viel, ein Detail vergessen hatte zu berichten, oder etwas Neues hinzugefügt hatte. So entstanden Legenden. Schon damals saßen sie an den Abenden im Schatten der ewig alten Linden und auf sattem, duftendem Gras.
Nachdem er sich umgezogen und sein Paddel hervorgekramt hatte, trug er sich im Fahrtenbuch ein. Inselrunde, schrieb er, dazu Bootsnummer und Abfahrtszeit. Aus dem Lagerschuppen gegenüber holte er sein Kajak und setzte es vorsichtig ins Wasser ein. Auf die Spritzdecke verzichtete er. Der See war ruhig, die Wellen so lang, dass sie nicht zu sehen, kaum zu spüren waren. Mit wenigen Paddelschlägen glitt er hinaus, passierte die ersten Boote, die entlang des Bahndamms dümpelten, kehrte in weitem Bogen um und nahm den Durchstich am Bahndamm. Zuvor jedoch ließ er die bis zum Wasser reichenden Zweige der Trauerweide über Kopf und seine Schultern streichen. Nach wenigen Metern war er in die andere, weitere Welt des großen Sees gelangt, die sich nach dem engen, dunklen und glucksenden Tunnel auftat, wie eine ferne Märchenwelt. Als würde der Blick fallen, so weit ging er mit einem Mal und begann bald schon Halt zu suchen. Das Aeschacher Bad rechts, voraus der Turm des Hotels Bad Schachen. Dann Wasser, nichts
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