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Inselwaechter

Inselwaechter

Titel: Inselwaechter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob M. Soedher
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nur ein dünnes Lächeln übrig. Er sah hinüber zum Sessel, wo dieser alte Mann saß, korrekt gekleidet im grauen Anzug, hellen Hemd, mit dunkler Krawatte, dunkelbraunen Lederschuhen. Vor ihm hatten ganze Schülergenerationen gezittert. Er sah die dürre Gestalt, die eine gewisse Zähigkeit vermittelte, vor der Wand seiner musikalischen Sammlung hocken, als suche er dort Schutz. Unzählige Beethoven-Einspielungen, Brahms-Ausgaben, Schubert-Sondereditionen und Bach, Bach, Bach. Eine schöne wunderbare Welt – für Wenzel allerdings nicht die ganze Welt. Es regte sich etwas in ihm. Ein verhuschtes Gefühl, das sich nicht recht traute an die Oberfläche zu treten: Mitleid. Er empfand plötzlich Mitleid mit dem alten Veteranen, dem sich die ganze Welt der Musik nicht erschloss, weil er keinen Zugang zu den Menschen fand. Der gefangen blieb in den Mauern einer Form von Klassik, die nichts weiter war als ein goldener, enger Käfig, in dem sich die eigene Unzulänglichkeit der Menschenangst im Kleid gebildeter Arroganz und Ablehnung gut ausleben ließ. Die Freude eines Blasmusikabends im Bierzelt auf der Steig war ihm ebenso fremd, wie die Gefühle der Erlösung in den harmonischen Kadenzen Pink Floyds, die einen froh machten und erfüllt zurückließen, nach rauschhaft dunklen Tunneln und Tälern; die Bregenzer Festspiele hatte er entweder nie besucht und falls doch, dann war ihm vermutlich zu viel Freude begegnet, was er schwer aushalten konnte. Wenzel nahm den Blick nach oben und fuhr die Regalreihen entlang. Er vermutete sie gefüllt mit Beethoven, Beethoven, Beethoven und Schiller. Das würde zu dem Alten passen – Moral als Konzept. Die Sinneslust, Lebens- und Menschenfreude, die Triebhaftigkeit eines Mozart und eines Wolfgang von Goethe hingegen, die müsste ihm im Innersten seines Wesens zuwider sein. Für ihn waren alle Klänge jenseits eines Streichquartetts oder einer Sinfonie musikalische Amöben.

    Wenzel zwang sich, die Gedanken, die ihn in die Vergangenheit führen wollten, zurückzudrängen. Er hatte in Erfahrung zu bringen, was noch alles geschehen war an jenem Morgen? Zychner musste es erzählen. Mit einer dahingesagten Phrase versuchte er seinen Gedanken zu entkommen. »Bequem haben Sie es hier.«
    »Bequem?«, schnarrte es sofort vom Sessel her, »Bequem – ein schlimmes Wort. Bequemlichkeit! Bequemlichkeit. Das ist das Himmelreich der Mittelmäßigen. Sie wollen die Umstände, die sie umgeben, ihr Leben, einfach alles, zuallererst und überall bequem einrichten und es ist ihnen dabei völlig egal, ob das anderen bequem ist, oder nicht. Ich mochte das Wort nie. Man kann es hier gut aushalten mit dem Blick über den See, mit der Stille einer Wohnung in den oberen Geschossen … ich will nicht klagen. Es ist angemessen, zweckdienlich, sachgerecht …«
    Wenzel fand den Faden wieder. »Wann haben Sie den Platz oben am Dach verlassen?«
    »Kurz nachdem die Sonne aufgegangen war. Was danach kommt, ist langweilig, so wie das ewige, gleichförmige Wiederholen eines Motivs in einer Sinfonie. Sie als Symphoniker müssen das doch verstehen. Keine Änderung des Tongeschlechts, keine Spiegelung des Motivs, kein Krebs – das rückwärts gespielte Motiv … nein, die Sonne geht ihren Weg, und Punkt.«
    Wenzel ließ sich nicht in eine Diskussion locken. »Nachdem die beiden Personen, ich meine den Mann mit dem Motorboot und diese ominöse Frau, nachdem die wieder verschwunden waren, ist da noch etwas geschehen?«
    Zychner überlegte. »Nein.«
    »Mhm. Gut.«
    »Ja, doch, halt!«, rief Zychner, »das Boot.«
    »Das Boot? Das hatten wir doch schon.«
    »Nein, das kleine Boot«, er schwang fordernd mit seiner rechten Hand, »mir fällt der Name nicht ein.«
    Wenzel überlegte und dieser Zeuge fiel ihm ein. Zenger. Natürlich musste Zychner dieses Kajak gesehen haben. Er sagte: »Kajak?«
    Zychner klang ein wenig enttäuscht und seine Stimme wurde leiser. »Genau. Das Kajak. Sie wissen doch alles schon. Aus welchem Grund fragen Sie mich aus. Es strengt mich an. Werden Sie erst einmal so alt wie ich, das ist für sich genommen schon eine Leistung, da wissen Sie dann, wie schnell die Energie verloren geht und in welch überraschender Plötzlichkeit eine tiefe Müdigkeit den Körper heimsucht.«
    Wenzel reagierte ungehalten. »Ach was – es strengt Sie an!? Sie wissen doch: Es gibt Fragen, die die Vernunft weder abweisen noch beantworten kann. Betrachten Sie meine Fragen als Kant’sche Übung, dann ertragen Sie sie

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