Inselwaechter
Die Frau ist recht schnell verschwunden. Nur – das Boot, das ist ziemlich flott weggefahren. Aber, wie schon gesagt. Ich habe den Details nichts beimessen können, was mir verdächtig hätte erscheinen sollen. Es war ein so völlig gewöhnlicher Morgen. Ein Boot kommt, ein Mann geht die Mole entlang, eine Frau läuft ihm entgegen – die beiden treffen sich für einen kurzen Moment und gehen wieder ihrer Wege.«
»Wie lange könnte der kurze Moment gewesen sein?«, fragte Wenzel.
»Es war ein kurzer Moment. Verlangen Sie aber nicht von mir, ihn in Sekunden und Minuten zu benennen. Lange genug, sich in die Augen zu sehen, sich zu küssen, sich zu beschimpfen, sich wieder zu trennen.« Er richtete sich in seinem Sessel auf. »Sie hatten Ihre Fragen, jetzt habe ich meine?«
Wenzel sah ihn überrascht an. »Ich bin noch nicht am Ende mit meinen Fragen. Es ist auch nicht so, dass ich hierhergekommen bin, um mich mit Ihnen über mein Leben zu unterhalten. Wir haben einen Mordfall zu klären.«
Zychner überging es und fragte hastig: »Wie geht es Ihnen mit Ihrem Leben? Sind Sie damit zufrieden?«
Wenzel schüttelte den Kopf. »Was soll diese Frage?«
»Sagen Sie schon. Es ist von gewisser Bedeutung für mich.«
Wenzel überlegte. Wer wusste schon, was Zychner noch alles gesehen hatte und sein Job erforderte es Informationen zu gewinnen. Er musste Zychner also bei Laune halten und sagte: »Ich möchte jedenfalls kein anderes.«
»Auch keine andere Vergangenheit?«, fragte Zychner schnell.
»Die Antwort habe ich Ihnen doch schon gegeben.«
Zychner verzog den Mund und rückte den Krawattenknoten zurecht.
Wenzel fasste zusammen. »Sie sahen also ein Motorboot von Westen der Insel herkommen. Es legte bei der Eisentreppe an der Mole an. Ein Mann stieg aus, ging zum alten Clubhaus. Zu gleicher Zeit kam vom Römerbad her eine Frau, die ebenfalls in Richtung altes Clubhaus lief. Beide kamen kurz darauf wieder hinter den Mauern hervor. Und das Ganze dauerte keine drei Minuten.«
»Korrekt.«
Wenzel rief umgehend auf der Dienststelle an und gab die neuen Informationen weiter. Lydia informierte ihn ihrerseits über Neuigkeiten. Die Ravensburger Kollegen hatten Dohmens Auto in Langenargen, nicht weit entfernt vom Gemeindehafen, entdeckt. Es war versperrt und der Staubschicht auf Motorhaube und Dach nach zu urteilen, seit einigen Tagen nicht verwendet worden.
»Wie halten Sie das aus?«, fragte Zychner. Es klang wie von weit weg kommend.
Wenzel ordnete die Falten seines Jacketts. »Was meinen Sie damit, dass ich mit dem Tod zu tun habe?«
»Nein. Das ist doch nichts Belastendes. Ich meine, wie halten Sie es aus, immerzu mit Menschen zu tun zu haben. Fortwährend mit neuen, fremden Menschen. Sie müssen mit ihnen reden, ihnen Fragen stellen, die ihr privatestes Leben angehen, Sie müssen ihnen nahekommen und diesen Fremden auf bestimmte Weise auch gestatten, ihnen selbst nahezukommen. Wie hält man das aus?«
Wenzel verschränkte die Arme. Er verstand nicht so recht, was Zychner meinte. Der sprach mit schnarrendem Ton weiter, so, als hätte er nie eine Antwort erwartet. »Ich habe die Menschen nie gemocht. Aus diesem Grund habe ich es auch nicht vermocht für sie Musik zu spielen, sie teilhaben zu lassen an dem, wozu mein Geist und Körper fähig gewesen wären. Nun – es war somit nicht möglich eine Karriere zu erleben, wie meine Begabungen sie zugelassen hätten. Ich erinnere mich noch genau an diese erste Zeit, als ich begann öffentlich zu konzertieren. Ich stand hinter dem Vorhang und spitzte hinaus. Manche der Leute, die da im Publikum saßen, kannte ich ja, kannte ihre Leben und viele Details davon. Ach Gott. Ich empfand es als anmaßend, dass da diese und andere Leute in einem Saal saßen, mir im Grunde fremde Menschen, mit all ihren Unzulänglichkeiten, Mangelhaftigkeiten … und gerade diesen Menschen hätte ich etwas geben sollen, etwas verraten sollen von meinem Leben. Nein, wirklich nicht! Sie hatten es nicht verdient.«
»Aber genau darum geht es doch«, entgegnete Wenzel, »kein Mensch besucht doch ein Konzert, gibt Geld dafür aus, um Töne zu hören, gespielte Noten, mechanische, seelenlose Musik. Es sind die Emotionen, das Erleben von durch Musik ausgedrückten Emotionen – darum geht es! Das ist doch das Wesen der Interpretation.«
Zychner reagierte aufgebracht. »Emotionen … Emotionen! Und am Ende der Emotionen liegt dann eine tote Frau im Segelhafen.«
Wenzel hatte für diese Verteidigung
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