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Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)

Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)

Titel: Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Parmy Olson
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»Tripcode-vs.-Anon«-Threads. Die Tripfags verspotteten die anonymen User, indem sie sie als einzigen Menschen mit dem Namen Anonymous oder als hive mind , als Gruppenhirn, bezeichneten. Im Laufe der nächsten Jahre nutzte der Witz sich ab, und in einigen Diskussionsforen wurde »Anonymous« tatsächlich als einheitliches Wesen behandelt. Poole trat zunehmend in den Hintergrund, während Anonymous ein Eigenleben annahm. Insbesondere /b/ wurde mit der Zeit zur Heimat einer Fangemeinde, deren ganzes Leben sich um den Spaß und die Erfahrungen drehten, die es bot. Es handelte sich meistens um männliche englischsprachige User zwischen achtzehn und fünfunddreißig Jahren. Einer von ihnen war William.
    William öffnete ein Auge und riskierte einen Blick. Es war ein kalter Nachmittag im Februar 2011, und der 4chan-Süchtige dachte darüber nach, ob er vielleicht allmählich aufstehen solle. Weit weg versuchte Aaron Barr gerade, die Schäden zu reparieren, die ein Zusammenstoß mit Anonymous-Hackern hinterlassen hatte. Auch William gehörte zu Anonymous, und manchmal attackierte er gerne andere Menschen. Er hatte zwar nicht die technischen Fähigkeiten wie Sabu oder Kayla, aber seine Methoden waren wirksam genug.
    An der Wand seines Schlafzimmers war ein Bettlaken festgenagelt, das vom Boden bis zur Decke reichte. Weitere Laken hingen vor den Wänden. Am Fußende des Betts stapelte sich Gerümpel auf einem niedrigen Regal; das Fenster dahinter war mit einem blickdichten Springrollo verschlossen. Dieses Zimmer war im Winter sein Kokon, das Bett sein Sicherheitsnetz. Mit seinen einundzwanzig Jahren hatte er fast jeden Tag auf 4chan verbracht, seit er vor sechs Jahren die Schule verlassen hatte, manchmal viele Stunden lang ohne Unterbrechung. Aus diversen Gründen hatte er es nie länger als ein paar Monate an einem Arbeitsplatz ausgehalten, auch wenn er es versuchte. William hatte zwei Gesichter: In der wirklichen Welt war er freundlich zu seiner Familie und loyal seinen Freunden gegenüber. Als anonymer /b/-User auf 4chan verwandelte er sich in eine dunklere, manchmal bösartige Persönlichkeit.
    Für William und andere fanatische Hardcore-User war 4chan nicht nur eine von vielen Unterhaltungsseiten, die Millionen Leute immer mal wieder aufsuchten – es war ein Lebensstil. Außer Pornos, Witzen und verstörenden Bildern gab es hier Opfer, denen man Streiche spielen konnte. Jemandem im Internet Angst zu machen oder ihm wirklich Schaden zuzufügen hieß auf 4chan »life ruin« – ein Leben ruinieren. Mit ganz ähnlichen Methoden wie Aaron Barr suchte sich William in den Diskussionsforen von 4chan Teilnehmer, die verspottet wurden oder es verdient hätten. Dann »doxte« er sie, das heißt, er stellte ihre wahre Identität fest, schickte ihnen Drohbotschaften auf Facebook oder machte Familienangehörige ausfindig und belästigte sie. Der Hauptgewinn war es, wenn er auf Nacktfotos stieß – die konnte man an Familie, Freunde und Kollegen des Opfers schicken, entweder, um es in eine peinliche Lage zu bringen, oder sogar, um es zu erpressen.
    Leben zu ruinieren machte William nicht nur Spaß, sondern es verschaffte ihm ein Machtgefühl, das er in der realen Welt nicht kannte. Ähnlich fühlte er sich höchstens, wenn er sich mitten in der Nacht aus dem Haus stahl und sich mit ein paar alten Freunden traf, um bunte Graffiti an Häuserwände und Waggons zu sprühen. Die Graffiti waren im Sommer seine Geliebte, im Winter war es 4chan und inzwischen manchmal die breiter gestreuten Aktivitäten bei Anonymous.
    Auf 4chan gab es durchaus auch harmlose Inhalte und sachliche Diskussionen, hauptsächlich aber Pornos, Splatter und ständige Beleidigungen der User untereinander; alles zusammen ergab einen pulsierenden Knoten der Negativität. Das Forum ließ manchmal unheimliche Gedanken an Selbstmord in William aufsteigen, aber es hielt ihn auch am Leben. Wenn er spürte, dass eine depressive Phase im Anzug war, blieb er oft die ganze Nacht auf 4chan und dann den folgenden Tag wach. Wenn die Selbstmordfantasien kamen, konnte er sich in den Schlaf flüchten, sicher in seine Bettdecke gewickelt und zur Wand gedreht, die er mit einem Laken verhängt hatte.
    William war in einer britischen Sozialwohnungssiedlung aufgewachsen. Seine Eltern hatten sich im YMCA getroffen, nachdem seine Mutter, eine Südostasiatin, aus einer unglücklichen Ehe geflohen war und zeitweise auf der Straße lebte. Das Paar trennte sich, als William sieben Jahre alt

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