Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
»Schlüsselbewahrer«. Und die Aktion, die ihr einen dauerhaften Platz im #InternetFeds-Chatroom und den Respekt der anderen Hacker verschaffen sollte, war ihr Anschlag auf die Nachrichtenwebseite Gawker.
Gawker war ursprünglich mit Anonymous verbündet. Sie war die erste Nachrichtenseite gewesen, die es ungeachtet aller Einschüchterungsversuche gewagt hatte, das Video mit dem leicht wirren Tom Cruise zu bringen und so mitgeholfen hatte, Project Chanology auf die Beine zu stellen. Aber der Spott, für den Gawker bekannt war, hatte sich dann auch gegen Anonymous gerichtet, als die Seite große 4chan-Raids als Beispiele für Internet-Mobbing präsentierte.
Nachdem Adrian Chen, der Internetreporter für Gawker, mehrere ironische Artikel über Anonymous geschrieben hatte, in denen er den Mangel an echten Hackerkenntnissen bei den Anons und die ständigen Rangeleien zwischen 4chan und Tumblr bloßstellte, versuchten die /b/-Nutzer einen DDoS-Angriff gegen Gawker, der aber fehlschlug. Als Reaktion veröffentlichte Gawker-Autor Ryan Tate am 19. Juli 2010 einen Artikel über den gescheiterten Raid und betonte, dass Gawker sich nicht einschüchtern lassen werde. Wenn »die traurigen 4channer damit ein Problem haben, wissen sie, wie sie mich erreichen können«, fügte er hinzu.
Kayla empörte sich über diesen Kommentar; in ihr regte sich wieder die Rachsucht, die sie immer spürte, wenn jemand sie – oder auch Anonymous – unterschätzte. »Uns war es eigentlich ziemlich egal, bis sie meinten: ›lol, ihr könnt uns nicht hacken, niemand kann uns hacken‹«, erzählte Kayla später in einem Interview. Obwohl es nirgends bei Gawker so stand, war es doch die Botschaft, wie Kayla sie verstand. Sie beschloss, sich die Webseite vorzunehmen.
Kayla und eine Gruppe von – nach ihren Angaben – fünf anderen Hackern trafen sich in einem Chatroom namens #Gnosis, in einem von Kayla selbst gegründeten IRC-Netzwerk, das sie tr0ll nannte. Hier konnten sich jeweils drei bis neun Nutzer treffen. Kayla betrieb sogar mehrere IRC-Netzwerke, aber nicht auf eigenen Servern, sondern sie ließ sie von anderen Hackern auf legalen Servern in Ländern einrichten, in denen man eine US-Gerichtsvorladung nur mit Schulterzucken quittierte. Kayla mochte es nicht, wenn ihr Name oder auch ihr Spitzname irgendwo lange zu lesen war.
Aus Kaylas Umgebung heißt es, dass sie tr0ll eingerichtet und mit erfahrenen Hackern gefüllt habe, die sie entweder ausgewählt oder selbst ausgebildet hatte. Kayla lernte schnell und vermittelte ihr Wissen gerne an andere. Sie war geduldig, ließ aber nicht locker. Einer ihrer Schüler erinnert sich, wie Kayla die Methode der SQL-Injection erst erklärte und sie dann die Hacker mit verschiedenen Ansätzen immer wieder ausprobieren ließ – zwei Tage lang ununterbrochen. »Es machte einen fast wahnsinnig, aber es funktionierte«, meinte der Schüler. Kayla verstand die vielen komplexen Schichten eines Verfahrens wie der SQL-Injection; die Gründlichkeit ihres Wissens ermöglichte ihr, Schwachstellen auszunutzen, die anderen Hackern nichts nutzten.
Im tr0ll-Netzwerk besprachen Kayla und ihre Freunde die Eigenschaften der Gawker-Server und versuchten, an einen Teil des Quellcodes zu gelangen. Im August, einige Wochen nach dem Artikel über die »traurigen 4channer«, stolperten sie zufällig über eine Schwachstelle der Server, auf denen Gawker.com lag. Diese Sicherheitslücke führte sie schließlich zu einer Datenbank mit den Usernamen, E-Mail-Adressen und Hashes (verschlüsselten Passwörtern) der 1,3 Millionen Nutzer, die sich auf Gawker registriert hatten, um Artikel kommentieren zu können. Kayla wollte ihren Augen nicht trauen.
Ihre Gruppe loggte sich in den privaten Account Nick Dentons bei Campfire ein, einem Kommunikations-Tool für die Administratoren und Journalisten von Gawker, und las alles mit, was die Gawker-Beschäftigten einander schrieben. Irgendwann schlugen die Redakteure scherzhafte Schlagzeilen vor wie »Nick Denton [Gründer von Gawker] sagt: Nur zu, 4chan, kommt zu mir nach Hause, wenn ihr euch traut«, und eine Schlagzeile mit einer Postanschrift. So lasen sie zwei Monate lang mit, bis ein Mitglied der Gruppe sich schließlich in den Twitter-Account des Technikblogs Gizmodo hackte, der zu Gawker Media gehörte, und Kayla entschied, die Datenbank mit den persönlichen Angaben zu 1,3 Millionen Gawker-Usern auf einer einfachen Webseite zu veröffentlichen. Einer der Teamangehörigen wollte
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