Inside Polizei
Eine verbindliche Zahl blieb allerdings jeder Vorgesetzte schuldig, wie hätte er sie auch berechnen sollen? Letztendlich sind solche Zahlen trotz Erfahrungswerten und ausgewerteten Reisedaten nicht mehr und nicht weniger als eine Schätzung. Aus diesem Grund und um keine unangenehmen Überraschungen zu erleben, kalkulieren Sicherheitsbehörden in der Regel mit der obersten geschätzten Teilnehmerzahl. Patrick schüttelte deshalb bei der Befehlsausgabe leicht den Kopf, als er die Zahlen vernahm. Eine Million geschätzter Besucher – hatte er nicht gehört, dass das Veranstaltungsgelände nur eine Genehmigung über 250 000 Partygäste erhalten hatte, die sich dort gleichzeitig aufhalten durften und konnten? Da musste er wohl etwas falsch verstanden haben. Denn so eine stümperhafte Planung würde in Deutschland doch niemals genehmigt werden, oder doch?
Patrick überlegte, was wohl geschehen würde, wenn ein Konzertveranstalter den Genehmigungsbehörden folgendes »Konzept« für ein Motörhead Live Gig vorstellen würde: Für eine 50 000 Menschen fassende Arena wolle er 200 000 Tickets verkaufen. Und dies mit der Begründung, dass eventuell nicht alle Besucher pünktlich zu Beginn des Konzerts erschienen. Manche favorisierten lediglich die Vorgruppe, andere verblieben vor der Halle oder in den Katakomben und tränken dort ihr Bier, und wiederum andere erreichten aufgrund von Verspätungen erst zum Schluss die Veranstaltung in der Arena, wenn die ersten Gäste sich schon auf den Rückweg machten. Durch das ständige Kommen und Gehen während der insgesamt vierstündigen Veranstaltung würde das mit den 200 000 zur Arena strömenden Besuchern schon irgendwie klappen ... Laut fluchend sollte man einen derartigen Scharlatan vom Behördenparkplatz jagen, dachte Patrick .
Und doch schienen die Loveparade-Macher ein ganz ähnliches Konzept zu haben. Der gesunde Menschenverstand schien Duisburg im Falle dieses Events bereits lange verlassen zu haben. Irritiert, aber ohne Nachfrage verfolgte Patrick die weitere Besprechung und sprach sich selber Mut zu: »Die da oben werden schon wissen, was sie tun.«
Die Kollegen der Hundertschaft rechneten mit einem normalen Arbeitstag ohne gravierende Vorkommnisse. Daher gingen die meisten Polizisten ohne jegliche Anspannung in diesen Einsatz, ganz im Gegensatz zu beispielsweise einer Demo Rechts gegen Links, bei der Ausschreitungen erwartet würden. Business as usual.
Ein Einsatz mit dem Hauptaufgabengebiet Massenlenkung stand bevor, und als Zugabe winkte vielleicht noch die Annehmlichkeit, den ein oder anderen Blick auf die wohlgeformten, halb nackten Körper der zahllosen feiernden Mädels werfen zu können. Der Fantasie der Kostüme und der Textilfreiheit waren keinerlei Grenzen gesetzt, was man sich bei einigen der anwesenden Kerle allerdings eindeutig gewünscht hätte. Aber so wurde es wenigstens nie langweilig, und es gab immer eine Menge zu schauen, zu lästern und zu bequatschen. Es gab wahrlich schlimmere Einsätze.
Patricks Einheit war an diesem verhängnisvollen Samstag frühzeitig vor Ort. Die Polizisten nutzten die Gelegenheit, um sich mit ihrem Einsatzraum vertraut zu machen. Ulrike, er und weitere Kollegen schritten durch den Tunnel zum eigentlichen Veranstaltungsgelände und anschließend wieder durch den Tunnel zurück. Der Tunnel, der zur Hölle werden sollte.
Der erste Blick auf die 1050 eingesetzten Ordner hinterließ einen guten Eindruck bei ihnen. Ganz im Gegensatz zu so manchen Aufpassern in deutschen Bundesliga-Stadien, die den Anschein erweckten, als seien sie gerade eben von der Straße weg rekrutiert worden als Gegenleistung für ein Freiticket und eine warme Erbsensuppe. Die Loveparade-Ordner wirkten akkurat und zuverlässig, und so sollten eigentlich die insgesamt eingesetzten Kräfte mehr als ausreichen, sofern nichts Unvorhergesehenes passierte.
Die nicht vorhandene Kommunikation zwischen Ordnerpersonal und Polizisten war keine Besonderheit der Loveparade, sondern der Regelfall bei größeren Einsätzen. Beide Gruppen arbeiteten die ihnen übertragenen Aufgaben ab und agierten autark voneinander.
Die Einsatzhundertschaft erhielt ihren Absperrungsauftrag und den genauen Einsatzraum zugewiesen. Dort standen sie nun und machten nichts, schauten nur, dass alles gut ging. Sie beäugten die vorbeiziehenden Massen, achteten darauf, dass niemand umfiel – falls doch, organisierten sie medizinische Versorgung –, oder griffen frühzeitig ein, um eine
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