Inside WikiLeaks
Ingenieurwissenschaft entlehnter Begriff. Damit wird ein Prozess bezeichnet, in dem eine vermeintlich objektive Feststellung immer weiter bearbeitet und fein abgestimmt wird, bis sie dem gewünschten Ergebnis näherkommt. Wenn Julian eine Formulierung noch nachbessern wollte, dann sprach er davon, sie müsse noch »gehont« werden, also zurechtgeschmirgelt wie ein Stück Metall.
Außerdem tauschte er seinen alten Hacker-Nickname »Mendax« gegen »Proff« aus, vielleicht in Anlehnung an den »Prof« aus diesem Buch. Der Prof in »Cryptonomicon« ist einer realen Gestalt nachempfunden, nämlich dem britischen Mathematiker Alan Turing. In Computerkreisen gilt Turing als einer der großen Denker des 20. Jahrhunderts. Er hat die Software für eine der ersten Rechenmaschinen geschrieben und den Code der Nazis geknackt.
Unsere Idee des Medienfreihafens sah vor, analog zu den Offshore-Inseln, auf denen für Banken besonders geschäftsfördernde Finanzgesetze galten, Island in eine Offshore-Insel für freie Informationen zu verwandeln – mit Gesetzen, die für Medienunternehmen und Informationsdienstleister besonders günstig wären. In vielen Ländern der Welt gibt es keine wirkliche Pressefreiheit. Selbst in demokratischen Ländern werden immer wieder Redaktionen abgemahnt, strafrechtlich verfolgt oder gar gezwungen, ihre Quellen offenzulegen. Medien und Provider würden ihren Firmensitz nach Island verlagern können, im Zweifel sogar einfach nur virtuell, und fortan den Schutz einer besonders fortschrittlichen Mediengesetzgebung genießen.
Island war ohnehin gerade dabei, seine Rechenzentren im großen Stil auszubauen und seine Datenfühler mit Hilfe dicker Seekabel in alle Welt auszustrecken. Grüne Energie aus den vielen Thermalkraftwerken gab es auch. Weil in unserer Vergangenheit so vieles wahr geworden war, was man im Vorfeld vielleicht für Romanstoff hätte halten können, dachten wir uns: Warum sollten wir mit unserem Plan vom Medienfreihafen nicht genauso durchkommen?
Egill Helgason jedenfalls stoppte die Tasse Kaffee auf halbem Wege zum Mund, als Julian ihm die Idee präsentierte. Ich sah es in seinen Augen blitzen. Damit war klar, dass wir den Vorschlag am Sonntag in seiner Talkshow lancieren würden.
Auf dem Rückweg in unser kleines Erkerzimmer mit der Blümchengardine, dem beigefarbenen Plastikmülleimer und dem Klo auf dem Gang wechselten wir noch ein paar Worte über unseren Scoop. Wir waren voller Selbstgewissheit: Nun würden wir uns ein bisschen in die isländische Politik einmischen. Wäre doch gelacht, wenn wir dieses sympathische Inselchen nicht mal eben aus der Krise führten. Das nächste Abenteuer konnte beginnen, die Mannschaft stand schon bereit.
An jenem Sonntag wurden wir morgens von einem Fahrer in der Pension abgeholt und zum Sender gebracht. Er liegt außerhalb der Stadt auf einer Anhöhe, wir kurvten langsam darauf zu. Ich blickte aus dem Fenster. Die Landschaft lag unter Schnee, es ging ein scharfer Wind. Durch die weißen Flocken, die von vorne auf die Autoscheibe zurasten, sah es so aus, als kämen wir gar nicht von der Stelle. Reykjavik war ein eigenartiger Ort, märchenhaft und unwirtlich zugleich. Ich hätte ewig in dem Auto sitzen bleiben mögen. Es war vermutlich nicht kälter als in Deutschland, aber die Welt vor dem Autofenster kam mir vor wie die Antarktis. Die Sonne schleppte sich nur einmal kurz über den Horizont, strahlte ein paar klägliche Stunden und sackte dann erschöpft wieder aus dem Sichtfeld. Ich war seltsam matt, schon morgens nach dem Aufstehen wieder müde, und wurde den ganzen Tag über nicht richtig wach. So schnell ich Island auch ins Herz geschlossen habe, ich hätte damals ahnen können, dass mir das Land nicht ausschließlich Gutes bringen würde. Vielleicht hätte ich sogar voraussehen können, dass es Ärger mit Julian geben würde, sollten wir noch einmal länger hierher zurückkehren.
Ich hatte eine Veränderung zwischen uns bemerkt, über die ich immer häufiger nachdachte. Julian reagierte übertrieben gereizt auf das meiste, was ich sagte. Manchmal antwortete er gar nicht mehr auf meine Fragen, behandelte mich wie Luft. Oder er korrigierte meine Formulierung mit einer pädagogischen Pedanterie, die mich böse machte – geschenkt! Er war englischer Muttersprachler, natürlich drückte er sich gekonnter aus als ich. Immerhin musste ich die ganze Zeit in einer fremden Sprache sprechen und sogar Interviews geben. Das war aber auch gar nicht
Weitere Kostenlose Bücher