Inside WikiLeaks
ausgesprochen gutes Malzbier. Das Land war mir sofort sympathisch.
Ich kannte Herbert bereits aus dem Chat. Dort war er kurz nach dem Kaupthing-Leak aufgetaucht und hatte bald den Job übernommen, Fragen von Neuankömmlingen zu beantworten. Herbert ist ein sehr bedachter, angenehmer Typ mit einem ganz feinen Humor. Er ist Mitte 20, trägt einen Backenbart, der eine leichte Tendenz zum Wuchern aufweist, und studiert Geschichte und Russisch an der Universität in Reykjavik. Eines seiner Lieblingszitate ist »Property is theft!« – Eigentum ist Diebstahl – von Pierre-Joseph Proudhon, einem französischen Ökonomen und Anarchisten aus dem 19. Jahrhundert. Außerdem sagt er über sich, den deutschen Anarchosyndikalisten Rudolf Rocker zitierend: »I am an Anarchist not because I believe Anarchism is the final goal, but because there is no such thing as a final goal.« 8
Er kannte die anarchistischen Klassiker, die auch auf meiner inoffiziellen Lieblingsliste der Weltliteratur standen, und ich war begeistert, so weit weg von zu Hause auf einen Gleichgesinnten zu treffen. »Was ist das Eigentum« von Pierre-Joseph Proudhon halte ich für das bedeutendste Buch, das je geschrieben wurde. Ich hatte mir eine neue Proudhon-Ausgabe nach Island mitgebracht, in der auch bis dahin noch unbekannte Briefe veröffentlicht worden waren. Seit Weihnachten stapelten sich bei mir außerdem noch »Blackwater« von Jeremy Scahill, »Corporate Warriors« von P. W. Singer und »Die Revolution« von Gustav Landauer. In Island wollte ich den Stapel ein wenig abarbeiten. Mit Herbert konnte ich stundenlang philosophieren. Als Historiker wusste er vieles, von dem ich als Informatiker keine Ahnung hatte, und im Gegenzug war er begeistert, als ich ihm die neuen Proudhon-Briefe zeigte.
Smari lernte ich erst vor Ort kennen. Er gehörte zu dem Informatikstudiengang der Universität und organisierte mit Herbert die Konferenz. Er ist leider ein bisschen fahrig und unzuverlässig, dafür aber sehr gebildet und engagiert sich in vielen sozialen Projekten. Der Halb-Ire mit seinen blonden Strubbelhaaren hatte einen außergewöhnlich klangvollen Namen: Smari McCarthy. Smari heißt Kleeblatt auf Isländisch – seine Eltern hatten sich wohl einen kleinen Scherz mit ihm erlaubt. Er trug es mit Humor, wie eigentlich alles andere auch.
Wir redeten, bis die Besitzer des Restaurants an unseren Tisch traten und sagten, sie würden jetzt gerne schließen. Julian kam mit dem letzten Flieger und stieß in der Pension zu uns. An diesem Abend diskutierten wir auch über die Idee, Island zu einem Medienfreihafen zu machen.
Eigentlich waren wir wegen der Konferenz da, aber unsere Ankunft hatte sich in dem kleinen Land herumgesprochen. Wir waren dort fast so etwas wie Volkshelden, nachdem wir die Machenschaften der Kaupthing Bank geleakt hatten. Der isländische Fernsehsender RUV hatte am 1. August in den 20-Uhr-Nachrichten darüber berichten wollen – doch fünf Minuten vor der Sendung traf eine einstweilige Verfügung ein und der Beitrag durfte nicht ausgestrahlt werden. Die Redaktion ließ sich nicht den Mund verbieten und blendete stattdessen unsere Webadresse ein. Viele schauten sich daraufhin die Original-Dokumente auf unserer Website an.
Am nächsten Tag erreichte uns die Einladung des wohl berühmtesten Talkmasters von Island, Egill Helgason. Er wollte, dass wir in seine sonntägliche Nachmittagstalkshow kämen. Tags darauf traf er sich mit uns zu einem Vorgespräch in der Stadt. Wir erzählten ihm von unserer Idee, Island zu einem Staat mit der fortschrittlichsten Mediengesetzgebung der Welt zu machen und dies in seiner Sendung zu lancieren.
Ehrlich gesagt ist die Idee weder neu noch stammt sie von uns, sondern eher aus der Science-Fiction-Literatur. Eine weitere Quelle für die Idee, die auch wir intensiv studiert hatten, war das Buch »Cryptonomicon«, von Neal Stephenson. In diesem historischen Roman aus dem Jahr 1999 geht es unter anderem um das geknackte Verschlüsselungssystem der Wehrmacht, Nazi-Gold und geheime Militäroperationen. Überdies spielt der Bau eines Datenhafens eine zentrale Rolle: Die fiktive asiatische Insel Kinakuta soll in einen Ort verwandelt werden, an dem die Kommunikationswege von keiner Instanz der Welt mehr kontrolliert werden können.
Das Buch gehörte neben denen Solschenizyns zu Julians Schlüssel-Lektüre. Er hat sogar Formulierungen daraus übernommen, wie zum Beispiel das »Honen«, ein aus der
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