Inside WikiLeaks
das Problem, wir stritten um Vordergründiges, um den eigentlichen Konflikt nicht aussprechen zu müssen.
Auch mit meinen Augen stimmte etwas nicht. Die Lider waren viel zu schwer. Ich versuchte an den Blicken der anderen abzulesen, ob irgendwas an mir nicht richtig war. So stapfte ich fast jeden Tag durch die Schneewehen zum Supermarkt, um mir frischen Orangensaft zu kaufen. Das sollte gegen den Sonnenmangel helfen. Auf der Orangensaftflasche war eine freundliche, orange strahlende Kugel abgebildet. Und die sah der vermissten Sonne ein wenig ähnlich. Wenn ich sie schon nicht sehen konnte, dann trank ich sie eben.
Die Talkshow wurde trotzdem ein voller Erfolg. Der blondgelockte Helgason stellte genau die richtigen Fragen, und im Anschluss an das Gespräch über WL und die Kaupthing Bank platzierten wir unseren Vorschlag mit dem Pressefreihafen. Nach diesem Auftritt kannte uns die ganze Insel.
Wir wurden auf der Straße begrüßt, im Supermarkt umarmt und in der Kneipe zum Schnaps eingeladen. Es war verrückt, wir waren Stars. Das war mir so angenehm, dass ich mich fast schämte. Einmal ein bisschen Held sein – das tat ehrlich gut, es wäre gelogen, wenn ich abstritt, das so empfunden zu haben. In den Anfangszeiten hatten wir so lange verzweifelt versucht, WL bekannt zu machen. Journalisten hatten mich oft wochenlang nicht zurückgerufen. Wir hielten Vorträge, zu denen nur eine Handvoll Leute erschien. Wir waren oft genug als Denunzianten, Spinner oder Verbrecher bezeichnet worden. Das erste Mal wurden wir für unsere Arbeit anerkannt, und ich mochte das. An Julian bemerkte ich keine Veränderung. Er schien es für selbstverständlich zu halten, hofiert zu werden, und achtete höchstens peinlich genau darauf, dass er derjenige war, auf den bei Lobgesängen ein paar Hymnen mehr abfielen.
So ein WL -Trip ließ sich nicht mit einem normalen »Ich fahr mal mit ein paar Freunden in den Urlaub« vergleichen. Wir kochten eigentlich nie zusammen, guckten nicht mal abends gemeinsam einen Film zusammen. Wenn wir das Frühstück nicht gleich ganz ausließen, dann saßen wir schon morgens mit den Laptops am Tisch, bissen in unsere Brötchen, tippten und keiner sagte ein Wort. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte Julian über den Chat gefragt, ob er mir mal die Kaffeekanne rüberreichen könnte. Einmal immerhin gingen wir abends zusammen aus in Reykjavik, in einen Club in der Innenstadt. Auch da wollte uns jeder Getränke ausgeben, mit uns feiern oder tanzen.
Julian und ich waren eigentlich überhaupt keine großen Clubgänger. In unserer gemeinsamen Zeit waren wir insgesamt vielleicht ein Dutzend Mal zusammen weg gewesen. Ich erinnere mich an einen Abend in Wiesbaden, im »Schlachthof«. Die anderen Gäste hatten Julian einen Spitznamen gegeben für seinen auffälligen Tanzstil: »Disco-King«. Julian tanzte sehr raumgreifend. Es sah fast aus wie ein ritueller Tanz, er streckte dabei die Arme auseinander und machte weite Schritte durch den Raum. Es wirkte zwar nicht wirklich rhythmisch und gekonnt, oder als hätte er ein irrsinniges Musikgefühl. Aber es hatte Coolness. Ihm war egal, was andere über ihn dachten. Er hat mir mal erklärt, es brauche Raum, wenn das Ego fließen solle. Diese Erklärung passte sehr gut zu seinem Tanzstil.
Tagsüber hingen wir meistens im »Café Rot« auf den Sofas herum. Das war ein selbstorganisiertes Mini-Restaurant in einem alten Abrisshaus, supergemütlich. Sonntags wurde dort Swing getanzt, und man konnte sich für einen Euro einen Kaffee kaufen und den ganzen Tag nachfüllen und arbeiten.
Drei Tage später war dann die Konferenz, auf der wir auch Birgitta kennenlernten. Sie kam als Parlamentarierin, um sich über unsere Idee vom Datenhafen zu informieren. Birgitta war Teil des Movement, einer neuen Partei, die im Zuge der Finanzkrise und der Bürgerproteste ins Parlament gewählt worden war. Birgitta kam aus der Bürgerrechtsbewegung, war überdies Tibet-Fan und hatte die ganze Welt bereist. Sie war auch Lyrikerin und überhaupt keine typische Politikerin.
Nach dem Vortrag kam sie zu uns, und wir gingen zusammen essen. Als Parlamentarierin weckte sie sofort Julians Interesse. Wenn er der Meinung war, eine wichtige Person vor sich zu haben, konnte sich Julian sehr höflich geben. Dabei folgte die Begrüßung stets dem gleichen Muster: Er gab der Person die Hand, verstand auch in Birgittas Fall den Namen nicht richtig, beugte sich noch einmal vor, um nachzufragen, und
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