Inspector Alan Banks 06 Das verschwundene Lächeln
nicht.«
»Aber Sie müssen mir glauben!«
»Warum? Was habe ich davon gehabt?«
»Wollen Sie denn Gemma nicht wiedersehen?«
Brenda stand auf. »Natürlich möchte ich Gemma wiedersehen. Aber ich kann es nicht. Sie ist tot. Können Sie das nicht verstehen? Sie ist tot. Sie muss tot sein. Wenn sie jetzt nicht tot ist, dann muss sie furchtbar leiden. Es ist besser, wenn sie tot ist.« Der ganze aufgestaute Kummer brach aus ihr heraus, Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Das Leben ist ein Geschenk, daran müssen wir uns klammern, Brenda.«
»Nein. Ich möchte das nicht mehr hören. Sie machen mir Angst. Gehen Sie weg. Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Aber Brenda ...«
»Gehen Sie!« Brenda zeigte zur Tür, die Tränen brannten in ihren Augen. »Verschwinden Sie! Raus!«
Lenora schüttelte langsam den Kopf, stand dann mit hängenden Schultern auf und verließ das Zimmer. Als Brenda hörte, wie die Haustür zugemacht wurde, sank sie in ihren Sessel zurück. Sie zitterte, Tränen liefen ihr über die Wangen. Verdammt noch mal, warum ließ man sie nicht einfach in Ruhe? Und warum konnte man ihr nicht endlich Gewissheit geben? Jeder weitere Tag, den Gemma vermisst blieb, wurde noch mehr zur Hölle. Warum konnte man nicht ihre Leiche finden, damit sie über ihren Kummer hinwegkommen, die Beerdigung organisieren und weitermachen konnte? Aber nein. Tag für Tag das gleiche Elend. Und alles war ihre Schuld, alles war Brendas Schuld, sie hatte ihre Tochter nicht genug geliebt, sie hatte die Kontrolle verloren und die Kleine so heftig geschüttelt, dass sie schreckliche Angst davor hatte, was sie ihr beim nächsten Mal antun würde.
Sie starrte auf den riesigen Fernsehbildschirm und sah durch ihre Tränen ihr verzerrtes Spiegelbild. Sie musste an das Interview denken, das sie wieder und wieder angeschaut hatte. Eitelkeit. Wahnsinn. Das war alles Wahnsinn gewesen. Und in einem plötzlichen Wutanfall hob sie ihren Arm und warf ihren Becher mit aller Kraft gegen den Bildschirm.
* IV
Noch vor wenigen Stunden hatte ein kalter Wind geweht und die Wolkendecke war so dicht gewesen, dass man überhaupt nicht mehr zu erkennen vermochte, welche Farbe der Himmel hatte. Doch jetzt, wo Banks und Susan zu Harkness fuhren, hatte sich der Wind gelegt; die Sonne war herausgekommen und der Nachmittag war herrlich geworden. Da Gristhorpe unterwegs gewesen war, als Banks nach ihm gesucht hatte, hatte er ihm eine Nachricht hinterlassen und Susan mitgenommen, die zufällig gerade auf dem Flur war.
Auf der Dorfwiese von Fortford picknickten ein paar Familien und genossen das wahrscheinlich letzte schöne Wochenende des Jahres, obwohl es eigentlich gar nicht besonders warm war und das Gras immer noch feucht sein musste. Banks bog nach rechts in die Straße nach Lyndgarth, und während sie sich der Brücke näherten, sahen sie noch mehr Leute über die Leas, die Flussauen, schlendern oder am Ufer angeln.
Banks fuhr schweigend und war angespannt wegen der bevorstehenden Konfrontation. Kurz vor der alten Packeselbrücke bogen sie in die Auffahrt, und als sie anhielten, wirbelten die Reifen Schotter auf. Sie hatten keinerlei Beweise, sagte er sich immer wieder, nur Vermutungen, und alles hing davon ab, Harkness so zu bluffen und zu verängstigen, dass er auspackte. Es würde nicht einfach werden; mit Menschen, die gewohnt waren zu bekommen, was sie wollten, war es nie einfach. Piets Informationen reichten nicht annähernd aus, um ihn vor Gericht zu bringen. Aber Harkness hatte Johnson gekannt und Johnson hatte Chivers gekannt. Jenny zufolge war der Pädophile aller Voraussicht nach über vierzig, lebte allein und kannte Gemma vermutlich. Nun, Harkness hatte Gemma nicht gekannt, aber er konnte über Johnson und Chivers von ihr gehört haben. Es ergab einen Sinn.
Nach dem Telefonat mit Piet hatte Banks den Zeitunterschied zu Südafrika erfragt und, da das Land nur zwei Stunden im Voraus war, erneut die dortige Polizei angerufen. Sie konnten noch immer nichts berichten und er hatte den Eindruck, dass sie die Sache schleifen ließen. Über die Art des Verbrechens, das dort stattgefunden hatte, und das Ausmaß der Vertuschung konnte er nur spekulieren. Außerdem hatte er noch einmal mit Linda Fish telefoniert; aber sie hatte nichts mehr von der befreundeten Schriftstellerin gehört. Er war zu unruhig gewesen, um einfach herumzusitzen und auf weitere Informationen zu warten.
Harkness
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