Inspector Alan Banks 12 Wenn die Dunkelheit fällt
gesagt.«
»Ich weiß. Ich weiß.« Sie drückte seine Hand. »Ich passe auf.«
»Was für ein Zustand?«, erkundigte sich Banks.
»Meine Frau erwartet ein Kind, Superintendent«, verkündete Wray strahlend.
Banks sah Victoria an. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte er.
Sie neigte den Kopf wie eine Königin. Banks konnte sich nicht vorstellen, wie Victoria Wray etwas so Chaotisches und Schmerzhaftes wie eine Geburt durchstehen wollte, aber das Leben war ja immer für Überraschungen gut.
»Wie weit sind Sie?«, fragte er.
Sie tätschelte ihren Bauch. »Fast im vierten Monat.«
»Also waren Sie schon schwanger, als Leanne verschwand?«
»Ja. Wie es der Zufall will, erfuhr ich es an ebenjenem Morgen.«
»Was hat Leanne davon gehalten?«
Victoria blickte in ihre Teetasse. »Leanne konnte halsstarrig und launisch sein, Superintendent«, sagte sie. »Sie hat nicht ganz so begeistert reagiert, wie wir gehofft hatten.«
»Ach, jetzt komm aber, Liebes, das ist nicht gerecht«, sagte Mr. Wray. »Sie hätte sich schon damit abgefunden. Ganz bestimmt.«
Banks stellte sich die Situation vor: Leannes Mutter stirbt einen langsamen, schmerzvollen Krebstod. Kurz darauf heiratet ihr Vater erneut - eine Frau, die Leanne nicht leiden kann. Es dauert nicht lange, da verkündet die Stiefmutter, sie sei schwanger. Man musste kein Psychologe sein, um zu verstehen, dass die Situation katastrophenreif war. Die Parallele zu Banks' Leben lag auf der Hand, auch wenn Leannes Situation eine andere gewesen war. Trotzdem, ob der eigene Vater ein Kind mit der neuen Stiefmutter bekommt oder die eigene Noch-Frau vom bärtigen Sean schwanger ist - das konnte durchaus ähnliche Reaktionen hervorrufen. In Leannes Fall war sie angesichts ihres Alters und der Trauer über den Tod der Mutter stärker ausgefallen.
»Also hat sie sich nicht über die Neuigkeit gefreut?«
»Nicht richtig«, gab Mr. Wray zu. »Aber man braucht ein bisschen, um sich an so was zu gewöhnen.«
»Dafür muss man es wenigstens versuchen«, sagte Victoria. »Aber Leanne war viel zu egoistisch.«
»Leanne wollte es versuchen«, beharrte Mr. Wray.
»Wann haben Sie es ihr gesagt?«, wollte Banks wissen.
»An dem Morgen, als sie verschwunden ist.«
Banks seufzte. »Warum haben Sie uns das nicht erzählt, als wir Sie nach Leannes Verschwinden befragt haben?«
Mr. Wray machte ein erstauntes Gesicht. »Es hat uns keiner danach gefragt. Ich dachte, es wäre unwichtig. Ich meine, das war eine Familienangelegenheit.«
»Außerdem«, ergänzte Victoria, »bringt es Unglück, wenn man es Fremden vor dem vierten Monat erzählt.«
Waren die beiden wirklich so dämlich oder spielten sie es nur? Banks bemühte sich, so ruhig und neutral wie möglich zu sprechen. Schließlich waren sie die Eltern eines vermissten Kindes. Er fragte: »Wie hat Leanne darauf reagiert?«
Die Wrays schauten sich an. »Was sie dazu gesagt hat? Eigentlich nichts, Liebes, oder?«, erwiderte Mr. Wray.
»Sie hat sich aufgespielt, wie immer«, sagte Victoria.
»War sie sauer?«
»Ich glaube schon«, entgegnete Mr. Wray.
»Sauer genug, um Ihnen wehzutun?«
»Wie meinen Sie das?«
»Hören Sie, Mr. Wray«, sagte Banks, »als Sie uns mitgeteilt haben, Leanne sei verschwunden, und wir sie innerhalb von ein, zwei Tagen nicht finden konnten, mussten wir vom Schlimmsten ausgehen. Was Sie uns jetzt gerade erzählt haben, wirft ein ganz anderes Licht auf die Angelegenheit.«
»Inwiefern?«
»Wenn Leanne sauer auf Sie war wegen der Schwangerschaft ihrer Stiefmutter, dann könnte sie ohne weiteres fortgelaufen sein, um sich zu rächen.«
»Aber Leanne würde nicht weglaufen«, protestierte Mr. Wray schwach. »Sie liebt mich.«
»Das ist vielleicht das Problem«, bemerkte Banks. Er wusste nicht, wie das weibliche Pendant zum Ödipuskomplex hieß - Elektrakomplex vielleicht? Ein Mädchen liebt seinen Vater, dann stirbt die Mutter, doch anstatt sich intensiv um die Tochter zu kümmern, sucht sich der Vater eine neue Frau, und als wäre das noch nicht genug, schwängert er sie umgehend und setzt damit die stabile Beziehung zur Tochter aufs Spiel. Unter solchen Umständen konnte sich Banks ohne weiteres vorstellen, dass Leanne türmte. Aber das Problem blieb bestehen: Sie musste schon ein wirklich sehr unsensibles Kind sein, wenn sie ihre Eltern nach der Aufregung um die
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