Inspector Alan Banks 12 Wenn die Dunkelheit fällt
schnell näher. Einige Augenblicke lang versperrte ihr das Schiff die Sicht, dann wurde es von einem Lotsenboot in Empfang genommen und durch das Mündungsgebiet zu den Docks von Immingham geleitet. Kurz darauf kam der nächste Tanker.
Während Jenny am Strand stand und das weite Meer betrachtete, ließ sie sich durch den Kopf gehen, was Maureen Nesbitt über die sieben Alderthorpe-Kinder erzählt hatte.
Tom Godwin, Lucys kleiner Bruder, war wie Lucy bis zum achtzehnten Lebensjahr bei seinen Pflegeeltern geblieben, dann war er zu entfernten Verwandten nach Australien gezogen, die zuvor gründlich von den Sozialbehörden überprüft worden waren. Jetzt arbeitete er auf deren Schaffarm in New South Wales. Dem Vernehmen nach war Tom ein robuster, ruhiger Junge, der gern lange Spaziergänge unternahm und so schüchtern war, dass er vor Fremden stotterte. Oft wachte er schreiend aus Albträumen auf, an die er sich nicht erinnern konnte.
Laura, Lucys Schwester, lebte in Edinburgh, wo sie Medizin studierte. Sie wollte Psychiaterin werden. Maureen hatte gesagt, Laura habe sich nach jahrelanger Therapie im Großen und Ganzen gut gemacht, aber sie sei noch immer scheu und zurückhaltend. Das könnte es ihr erschweren, die nur allzu menschlichen Seiten des von ihr gewählten Berufs zu ertragen. Zweifellos war sie eine hervorragende, begabte Studentin, aber ob sie den täglichen Druck der Psychiatrie ertragen würde, stand auf einem anderen Blatt.
Von den drei überlebenden Murray-Kindern hatte Susan mit dreizehn Jahren Selbstmord begangen. Dianne wohnte in einer betreuten Einrichtung für psychisch Kranke, litt unter schweren Schlafstörungen und schrecklichen Wahnvorstellungen. Keith studierte ebenfalls, genau wie Laura, aber Maureen meinte, er müsse inzwischen kurz vor dem Abschluss stehen. Er hatte an der Universität von Durham Geschichte und Englisch studiert. Er ging noch immer regelmäßig zum Psychiater und litt unter depressiven Schüben und Panikattacken, insbesondere in geschlossenen Räumen. Aber er kam zurecht und war erfolgreich an der Uni.
Und das war es, das traurige Vermächtnis von Alderthorpe. Ein besudeltes Leben.
Jenny fragte sich, ob Banks wollte, dass sie weitermachte, nachdem er Lucy hatte laufen lassen. Maureen Nesbitt hatte gesagt, sie setze am ehesten auf Keith Murray und Laura Godwin, und da es von Eastvale näher zu Keith war, beschloss Jenny, es zuerst bei ihm zu versuchen. Aber hatte das Ganze noch einen Sinn? Sie musste zugeben, dass sie kein psychologisches Indiz gefunden hatte, das die Anklage gegen Lucy erhärtete. Sie hatte das Gefühl, versagt zu haben, was viele Beamte der Soko ja eh von ihr glaubten.
Lucy konnte durchaus einen psychologischen Schaden davongetragen haben, der sie zu einem willfährigen Opfer von Terence Payne machte. Andererseits auch genauso gut nicht. Auch wenn verschiedene Menschen demselben Grauen ausgesetzt sind, reagieren sie oft auf völlig unterschiedliche Weise. Vielleicht war Lucy eine wirklich starke Persönlichkeit, stark genug, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen und ihr eigenes Leben zu führen. Jenny bezweifelte, dass jemand die Kraft besaß, sämtliche psychischen Folgen der Ereignisse von Alderthorpe zu verdrängen, aber es war durchaus möglich, mit der Zeit gesund zu werden, wenigstens teilweise. Auf einer bestimmten Ebene konnte man zurechtkommen, das hatten Tom, Laura und Keith ja bewiesen. Sie mochten verwundete Veteranen sein, aber immerhin lebten sie noch.
Nachdem Jenny die erste Hälfte um die Landspitze zurückgelegt hatte, stiefelte sie durch das lange Gras zurück zum Parkplatz und setzte sich ins Auto. Als sie den schmalen Weg zurückfuhr, entdeckte sie im Rückspiegel einen blauen Citroën, und sie war überzeugt, ihn schon mal gesehen zu haben. Sie mahnte sich, keine Gespenster zu sehen, verließ Spurn Head und fuhr Richtung Patrington. Kurz vor Hull rief sie Banks an.
Er meldete sich nach dem dritten Klingeln. »Jenny, wo bist du?«
»In Hull. Auf dem Rückweg.«
»Was Interessantes herausgefunden?«
»'ne Menge, aber ich weiß nicht, ob es uns groß weiterbringt. Ich kann versuchen, eine Art Profil daraus zu erstellen, wenn du möchtest.«
»Gerne.«
»Ich hab gerade gehört, du musstest Lucy Payne laufen lassen?«
»Stimmt. Wir haben sie ohne großes Aufsehen über den Seiteneingang hinausbekommen, und ihre Anwältin hat sie direkt nach Hull gefahren. Sie
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