Inspector Alan Banks 12 Wenn die Dunkelheit fällt
vermissten Mädchen nicht wissen ließ, dass sie noch am Leben war. Und ohne Geld und Inhaliergerät wäre sie nicht weit gekommen.
»Ich denke schon, dass sie dazu imstande wäre«, behauptete Victoria. »Sie konnte gemein sein. Weißt du noch, wie sie Rizinusöl in den Kaffee gegossen hat, als ich meinen ersten Abend vom Bücherclub hatte? Caroline Opley hat sich quer über ihre Margaret Atwood übergeben.«
»Aber das war nur am Anfang so, Liebes«, widersprach Mr. Wray. »Sie hat etwas Zeit gebraucht, um sich an die neue Situation zu gewöhnen.«
»Ich weiß. Ich meine ja nur. Und sie hat nicht die nötige Sorgfalt walten lassen, was man eigentlich tut. Sie hat den silbernen...«
»Glauben Sie, Leanne war so gekränkt, dass sie absichtlich zu spät nach Hause kommen wollte?«, fragte Banks.
»Bestimmt«, antwortete Victoria, ohne lange zu überlegen. »Mit diesem Jungen sollten Sie mal reden. Diesem Ian Scott. Der ist Dealer, wissen Sie.«
»Hat Leanne Drogen genommen?«
»Nicht dass wir wüssten«, sagte Mr. Wray.
»Aber möglich wäre es«, begann seine Frau wieder. »Sie hat uns ja nicht alles erzählt, oder? Wer weiß, was sie gemacht hat, wenn sie mit diesen Leuten unterwegs war.«
Christopher Wray legte die Hand auf die seiner Frau. »Reg dich nicht auf, Schatz. Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat.«
»Ich weiß.« Victoria erhob sich. Sie schwankte ein wenig. »IcH glaube, ich muss mich noch ein Weilchen hinlegen«, sagte sie. »Aber vergessen Sie nicht, was ich gesagt habe, Superintendent, den sollten Sie sich mal näher angucken, diesen Ian Scott. Der ist nicht koscher.«
»Vielen Dank«, sagte Banks. »Ich werd's mir merken.«
Als sie gegangen war, blieb es eine Zeit lang still. »Können Sie uns noch irgendwas sagen?«, fragte Banks.
•»Nein. Nein. Ich bin mir sicher, dass Leanne so was nicht tun würde ... was Sie eben gesagt haben. Ich weiß genau, dass ihr etwas zugestoßen ist.«
»Warum haben Sie bis zum nächsten Morgen gewartet, bevor Sie die Polizei verständigt haben? Ist so was schon öfter vorgekommen?«
»Noch nie. Das hätte ich Ihnen erzählt.«
»Warum haben Sie dann so lange gewartet?«
»Ich wollte mich schon eher melden.«
»Ach, bitte, Mr. Wray«, sagte Winsome und berührte vorsichtig seinen Arm. »Uns können Sie es doch sagen.«
Er schaute sie an, und seine Augen baten, flehten um Vergebung. »Ich hätte die Polizei verständigt, wirklich«, sagte er. »Sie war noch nie die ganze Nacht weggeblieben.«
»Aber Sie hatten sich mit ihr gestritten, stimmt's?«, versuchte es Banks. »Weil sie so bockig wurde, als Sie ihr von der Schwangerschaft Ihrer Frau erzählt haben.«
»Sie hat gesagt, wie ich so was tun könnte ... so kurz nach ... nach ihrer Mutter. Sie hat sich aufgeregt, hat geweint, hat schreckliche Sachen über Victoria gesagt, die sie nicht so gemeint hat, aber ... Victoria hat dann gesagt, sie könne ruhig ausgehen und ihretwegen auch wegbleiben.«
»Warum haben Sie uns das damals nicht erzählt?«, fragte Banks, obwohl er die Antwort wusste: aus Scham, dieser mächtigen gesellschaftlichen Antriebskraft - dafür hatte Victoria Wray sicherlich ein feines Gespür. Die Polizei sollte nicht in eine Familienangelegenheit verwickelt werden. Sie hatten ja überhaupt erst von Leannes Freunden erfahren, dass es Spannungen zwischen Victoria und Leanne gab, und das Mädchen hatte offensichtlich keine Zeit oder Gelegenheit gehabt, den anderen von Victorias Schwangerschaft zu erzählen. Victoria Wray gehörte zu der Sorte Frau, die die Polizei dazu verdonnerte, den Dienstboteneingang zu benutzen, wenn sie einen gehabt hätte. Dass es keinen gab, war ihr bestimmt ein Dorn im Auge.
Mr. Wray hatte Tränen in den Augen. »Ich konnte es nicht«, sagte er. »Ich konnte es einfach nicht. Wir dachten, es wäre so, wie Sie gerade gesagt haben, dass sie die ganze Nacht weggeblieben ist, um uns eins auszuwischen, damit wir merken, wie verletzt sie ist. Aber trotz alledem, Superintendent, Leanne ist kein schlechtes Mädchen. Sie wäre am nächsten Morgen zurückgekommen. Das weiß ich ganz genau.«
Banks erhob sich. »Dürften wir noch einen Blick in ihr Zimmer werfen, Mr. Wray? Vielleicht haben wir ja etwas übersehen.«
Wray machte ein verdutztes Gesicht. »Ja, sicher. Aber ... ich meine ... wir haben es neu gemacht. Es ist nichts mehr da.«
»Sie haben Leannes
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