Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
Gesicht ein wenig zart, aber er wäre bestimmt einmal ein richtiger Herzensbrecher geworden.
Mrs. Marshall bemerkte Michelles Blick. »Ja, das ist unser Graham. Das Foto ist aus seinem letzten Urlaub. In dem Jahr konnten wir nicht weg - Bill hatte einen großen Bau deshalb haben die Banks ihn mit nach Blackpool genommen. Alan Banks war ein guter Freund von Graham. Mr. Banks hat das Foto gemacht und uns hinterher geschenkt.« Sie hielt inne. »Keine Woche später war Graham fort.«
»Er sieht gut aus«, sagte Michelle.
Mrs. Marshall nickte und schniefte.
»Ich will Sie nicht lange aufhalten«, begann Michelle, »aber wie Sie sich vorstellen können, war es auch für uns ein kleiner Schock, Ihren Sohn nach so langer Zeit zu finden. Ist es in Ordnung, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«
»Das ist Ihre Arbeit, meine Liebe. Machen Sie sich keine Gedanken um uns. Wir haben vor vielen Jahren getrauert. Das liegt hinter uns, na ja, so gut wie.« Sie nestelte am Kragen ihres Kleides. »Aber es ist schon komisch, jetzt, wo sie ihn gefunden haben, kommt es mir vor, als wäre es erst gestern passiert.«
»Ich hab mir die Akten noch nicht angesehen, aber soweit ich weiß, gab es 1965, als Graham vermisst wurde, eine ordnungsgemäße Ermittlung, nicht wahr?«
»Oh ja. Ich kann der Polizei keinen Vorwurf machen. Alle haben ihr Bestes gegeben. Überall herumgesucht. Jet Harris persönlich hatte die Verantwortung, wissen Sie. War mit seiner Weisheit am Ende, was er auch versucht hat, es führte ins Leere. Er hat sogar persönlich unser Haus nach Hinweisen durchsucht.«
Detective Superintendent John Harris - sowohl wegen seiner Schnelligkeit als auch wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Bassgitarristen der Shadows »Jet« genannt - war in Peterborough eine Legende. Auch Michelle hatte die schmale Biografie gelesen, die einer der schriftstellerisch begabten ortsansässigen Bobbys verfasst hatte. Harris' Lebensgeschichte hatte sie beeindruckt: Er war 1920 in bescheidenen Verhältnissen in den Slums von Glasgow geboren, hatte im Zweiten Weltkrieg die zweithöchste militärische Auszeichnung erhalten, war bis zum Detective Chief Superintendent aufgestiegen und 1985 mit einer unvergesslichen Feier in die Pension entlassen worden. Sein gerahmtes Bild hing im Foyer der Dienststelle. Harris' geheiligten Namen musste man mit gebührender Ehrfurcht aussprechen. Michelle konnte sich vorstellen, wie es ihn geärgert haben musste, den Graham-Marshall-Fall nicht aufklären zu können. Harris war nicht nur dafür bekannt gewesen, dass er seine Fälle schnell löste, sondern auch wegen seiner Hartnäckigkeit und seines Durchhaltevermögens. Normalerweise gab er nicht auf, ehe er den Täter hinter Schloss und Riegel gebracht hatte. Vor acht Jahren war Harris an Krebs gestorben und endgültig in den Olymp aufgestiegen. »Dann ist gründlich gearbeitet worden«, sagte Michelle. »Was soll man da sagen? Manchmal schlüpft einer durch die Maschen.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, meine Liebe. Ich beschwere mich ja gar nicht. Damals wurde jeder einzelne Stein umgedreht, aber wer sollte auf die Idee kommen, da hinten zu suchen, zwölf Kilometer weiter? Ich meine, die konnten ja wohl kaum die ganze Grafschaft umgraben, oder?«
»Nein«, bestätigte Michelle.
»Und dann gab es noch die vermissten Kinder aus der Gegend von Manchester«, fuhr Mrs. Marshall fort. »Die von den Moor-Mördern. Unser Graham war allerdings schon ein paar Monate verschwunden, als sie Brady und Hindley gefasst haben, und danach stand es natürlich überall.«
Michelle wusste Bescheid über Ian Brady und Myra Hindley, die »Moor-Mörder«, obwohl sie damals noch klein gewesen war. Wie bei Jack the Ripper, Reginald Christie und dem Yorkshire Ripper hatte sich die Grausamkeit der Taten in das allgemeine Unterbewusstsein gebrannt. Allerdings war Michelle nicht klar gewesen, dass Bradys und Hindleys Verbrechen sich zeitlich mit Graham Marshalls Verschwinden überschnitten. Es lag nahe, dass Detective Superintendent Harris zumindest vermutet hatte, Grahams Fall könne in irgendeinem Zusammenhang mit den Taten von Brady und Hindley stehen. Andererseits war Peterborough über zweihundert Kilometer von Manchester entfernt, und das Mörderpaar hatte sich damals auf seine unmittelbare Umgebung beschränkt.
Noch ehe Michelle die nächste Frage stellen konnte, kam eine zweite Frau herein. Sie hatte große Ähnlichkeit
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