Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
ja?«
»Ich wollte nicht...«
»Ich hab Abitur, ich war auf der Polytechnic in Leeds, wie sie damals hieß, ich bin diplomierter Volkswirt.«
Toll, dachte Annie unbeeindruckt, aber deshalb bist du noch lange kein Intellektueller. »Das habe ich damit nicht gemeint«, sagte sie. »Ich will nur sichergehen, dass wir auf jede Eventualität vorbereitet sind.«
»Tut mir Leid«, sagte Martin. »War eine anstrengende Nacht. Ist nur, weil wir, Robin und ich, uns oft so was anhören müssen. Die Leute wissen gerne alles besser.«
»Ich verstehe«, sagte Annie und erhob sich. »Ich will Sie nicht länger aufhalten.« Sie reichte Robin, die ihr am nächsten stand, ihre Visitenkarte. »Meine Handynummer steht auch drauf.« Annie lächelte. »Falls ich mal Empfang habe.« In den Yorkshire Dales war der Handyempfang, gelinde ausgedrückt, unzuverlässig. »Wenn Sie irgendwas hören, melden Sie sich sofort bei mir, ja?«
»Sicher«, sagte Robin. »Natürlich. Und falls ...«
»Dann werden Sie es als Erstes erfahren. Machen Sie sich keine Sorgen, wir suchen ihn, das können Sie mir glauben. In solchen Sachen sind wir ziemlich gut.«
»Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann ...«, sagte Robin.
»Klar.« Annie lächelte sie zuversichtlich an, auch wenn ihr ganz anders zumute war.
* 3
Vor Hazel Crescent 58 schloss Detective Inspector Michelle Hart ihren dunkelgrauen Peugeot ab und nahm die Gegend in Augenschein. Sie war schon zweimal hier gewesen; einmal hatte sie eine Einbruchsreihe untersucht, beim zweiten Mal ging es um Vandalismus. Verglichen mit anderen städtischen Sozialbausiedlungen kamen die »Hazels«, wie die Anwohner sie nannten, gar nicht so schlecht weg. Die zweckdienlichen Reihenhäuser aus Backstein waren Anfang der sechziger Jahre, noch vor dem »New Town«-Programm, gebaut worden. Heute wohnte hinter den niedrigen Mäuerchen und Ligusterhecken eine bunte Mischung aus Arbeitslosen, minderjährigen Müttern und Rentnern, die sich keine andere Bleibe leisten konnten. Die asiatische Bevölkerung, hauptsächlich Immigranten aus Pakistan und Bangladesch, wuchs beständig an. Es gab sogar ein paar Asylbewerber. Wie überall, lebten auch in den Hazels die unvermeidlichen Krawallmacher, deren größtes Vergnügen es war, das Eigentum anderer zu zerstören, Autos zu klauen und Wände mit Graffiti zu beschmieren.
Es regnete immer noch, und in der grauen Wolkendecke war nicht die kleinste Lücke zu sehen. Die triste Straße, die sich durch das Herz der Siedlung wand, war leer, alle Kinder waren zu Hause, spielten am Computer oder surften durchs Internet, und die Mütter sehnten die Sonne herbei für ein paar Momente Ruhe und Frieden.
Michelle klopfte an die dunkelgrüne Tür. Mrs. Marshall, eine zerbrechliche, grauhaarige Frau mit gebeugtem Rücken und gramzerfurchtem Gesicht, öffnete und führte sie in ein kleines Wohnzimmer, wo sie Michelle in einen pflaumenblauen Veloursessel bat. Michelle kannte die Marshalls bereits von der Identifizierung der Gebeine, zu Hause hatte sie sie jedoch noch nicht besucht. Das Zimmer war so sauber und tadellos, dass Michelle wegen ihres ungewaschenen Frühstücksgeschirrs, des ungemachten Bettes und der Staubflocken in den Ecken kurz ein schlechtes Gewissen hatte. Doch wer außer ihr sah das schon?
Bill Marshall, von einem Schlaganfall außer Gefecht gesetzt, glotzte Michelle an. Neben ihm lehnte ein Spazierstock. Er hatte eine Decke auf den Knien, sein Kinn hing herunter, im Mundwinkel sammelte sich Speichel. Eine Gesichtshälfte war abgesackt, als sei sie geschmolzen wie eine Uhr von Dali. Bill Marshall war ein Mann von großer Statur gewesen, das konnte man noch sehen, doch inzwischen war sein Körper von der Krankheit gezeichnet. Nur die Augen waren lebendig. Das Weiße war leicht getrübt, aber die grauen Pupillen blickten durchdringend und wachsam. Michelle grüßte Bill Marshall und meinte zu erkennen, dass sich sein Kopf ein klein wenig bewegte. Er könne zwar nicht sprechen, erklärte Mrs. Marshall, aber er könne alles verstehen.
Eines der gerahmten Fotos auf dem Sims über dem elektrischen Kamin zeigte einen ungefähr dreizehn, vierzehn Jahre alten Jungen mit einer Beatles-Frisur, wie sie Anfang der Sechziger modern gewesen war. In einem Rollkragenpullover stand er an einer Promenade, hinter ihm war das Meer, neben ihm erstreckte sich eine lange Mole. Ein hübscher Junge, dachte Michelle, vielleicht war sein
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