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Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall

Titel: Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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mit dem Jungen auf dem Foto - eine schmale, gerade Nase, ein rundes Kinn, ausgeprägte Wangenknochen -, nur waren die weiblichen Züge bei ihr deutlicher. Sie hatte ihr langes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug ein dunkelblaues T-Shirt mit Jeans. Für Michelles Geschmack war sie etwas zu dünn, aber vielleicht war Michelle einfach nur neidisch, glaubte sie doch immer, fünf bis zehn Pfund zu viel auf den Rippen zu haben. Wie bei Mrs. Marshall hatten die jüngsten Ereignisse ihre Spuren im Gesicht der Frau hinterlassen.
      »Das ist meine Tochter Joan«, sagte Mrs. Marshall.
      Michelle erhob sich und schüttelte Joans schlaffe Hand.
      »Joan wohnt in Folkestone. Sie ist Lehrerin an der Gesamtschule«, erzählte Mrs. Marshall mit unverkennbarem Stolz. »Eigentlich wollte sie in Urlaub fahren, aber als sie die Nachricht hörte ... na ja, da wollte sie uns nicht allein lassen.«
      »Das kann ich verstehen«, sagte Michelle. »Standen Sie und Graham sich nahe?«
      »So nahe, wie man sich als Bruder und Schwester in der Pubertät stehen kann, wenn man zwei Jahre auseinander ist«, entgegnete Joan mit wehmütigem Lächeln. Sie setzte sich im Schneidersitz vor dem Fernseher auf den Boden. »Ach nein, das ist ungerecht. Graham war nicht so wie die anderen Jungs in seinem Alter. Er hat mir sogar Geschenke gemacht. Er hat mich nie geärgert oder mir das Leben schwer gemacht. Wenn überhaupt, hat er sich zu sehr als mein Beschützer aufgespielt.«
      »Vor wem?«
      »Wie bitte?«
      »Vor wem wollte er sie beschützen?«
      »Ach, das habe ich nur so gesagt. Im Allgemeinen. Falls mich einer anmacht oder so.«
      »Jungen?«
      »Na ja, ich war erst zwölf, als Graham verschwand, aber doch, es gab ein paar besonders anhängliche Jungs, die er zusammengestaucht hat.«
      »Hat sich Graham oft geprügelt?«
      »Eigentlich nicht«, sagte Mrs. Marshall. »Sicher, er hat sich vor keiner Schlägerei gedrückt. Als wir hierher gezogen sind und er in die neue Schule musste, gab es anfangs ein paar Probleme - Sie wissen ja, wie das ist, neuen Kindern wird erst mal auf den Zahn gefühlt. Gleich in der ersten Woche hat sich Graham mit dem Großmaul der Schule angelegt. Gewonnen hat er nicht, aber er hat sich gut behauptet, der andere hatte ein blaues Auge und Nasenbluten, danach hat sich keiner mehr an Graham rangetraut.«
      Michelle überlegte, wie schwer es gewesen sein musste, Graham Marshall zu entführen und zu ermorden, wenn er sich durchaus zu wehren gewusst hatte. Waren es zwei Täter gewesen? War er vielleicht zuerst betäubt oder ohnmächtig geschlagen worden? Oder kannte er seinen Entführer und ging freiwillig mit? »Sie sagten, Sie seien hier hoch gezogen?«, hakte Michelle nach. »Haben Sie vorher im East End gewohnt?«
      »Man hört's immer noch, stimmt's? Ist schon so lange her. Einmal Cockney, immer Cockney, sagt man. Aber das ist mir nicht peinlich. Ja, wir kommen aus Bethnal Green. Wegen Bills Arbeit sind wir öfter umgezogen. Er ist Maurer. Beziehungsweise war. Wir waren noch kein ganzes Jahr hier, da passierte das mit Graham. Er hatte gerade die Quinta am Gymnasium geschafft.«
      »Aber Sie sind hier geblieben.«
      »Ja. Es gab viel zu tun, von wegen der ganzen Neubausiedlungen. Viel Arbeit für Maurer. Außerdem gefällt's uns hier. Ist unsere Kragenweite.«
      »Mrs. Marshall«, sagte Michelle. »Ich weiß, dass es lange her ist, aber können Sie mir sagen, was Graham für Hobbys hatte?«
      »Hobbys ? Ach, das übliche. Fußball. Cricket. Und Popmusik. Er war verrückt nach Popmusik. Wir haben oben noch seine alte Gitarre stehen. Er hat stundenlang Akkorde geübt, wirklich stundenlang. Aber er hat auch viel gelesen. Graham gehörte zu den Kindern, die sich selbst beschäftigen konnten. Er brauchte nicht unbedingt einen, der was mit ihm unternahm. Hat viel über den Weltraum gelesen. Über Science-Fiction, Raketen, die zum Mars fliegen, oder Monster mit grünen Augen. Total weltraumverrückt war er.« Mrs. Marshall schaute auf das Foto, und ein verträumter Ausdruck lag in ihren Augen. »An dem Tag, bevor er ... nun, ähm, da war er ganz aufgeregt. In Amerika wurde nämlich so eine Rakete hochgeschossen, das hat er sich im Fernsehen angeguckt.«
      »Hatte er viele Freunde?«
      »Er hatte sich hier mit ein paar Jungs angefreundet«, erwiderte Joan. Sie sah ihre Mutter an. »Wer war das noch mal,

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