Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
alt aus, auch wenn er ein paar graue Strähnen im dichten schwarzen Haar hatte. Der Mann war schlank, vielleicht fünf, zehn Zentimeter größer als sie mit ihren eins fünfundsechzig und hatte ein kantiges, gebräuntes Gesicht mit lebhaften blauen Augen. Einen besonders ausgeprägten modischen Geschmack schien er nicht zu haben, er trug Freizeitkleidung von der Stange - einen leichten Blouson, graue Chinos, ein blaues, oben offenes Jeanshemd -, aber sie stand ihm nicht schlecht. Manche Männer in seinem Alter sahen nur in einem Geschäftsanzug gut aus. In anderen Klamotten wirkten sie wie Wölfe im Schafspelz. Freizeitkleidung stand nur wenigen Männern.
»Nenne ich Sie jetzt also Inspector Hart?«, fragte Banks.
Michelle warf ihm einen Seitenblick zu. »Meinetwegen können Sie mich Michelle nennen, wenn Sie wollen.«
»Also gut, Michelle. Hübscher Name.«
War das eine Anmache? »Sparen Sie sich das«, sagte Michelle.
»Nein, wirklich. Das war ernst gemeint. Sie brauchen nicht rot zu werden.«
Wütend, weil Banks ihre Verlegenheit bemerkt hatte, sagte Michelle: »Solange Sie nicht das alte Lied von den Beatles anstimmen.«
»Ich singe keiner Frau ein Lied, die ich gerade erst kennen gelernt hab. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass Sie das schon oft gehört haben.«
Michelle schenkte ihm ein Lächeln. »So oft, dass ich's nicht mehr zählen kann.«
Hinter dem Pub war ein Parkplatz und eine große, frisch gemähte Wiese mit weißen Tischen und Stühlen, wo man in der Sonne sitzen konnte. Ein paar Familien waren bereits da, hatten es sich für den Nachmittag gemütlich gemacht; die Kinder liefen umher, schaukelten oder rutschten auf dem kleinen Spielplatz, und Michelle und Banks ergatterten einen relativ ruhigen Tisch unter Bäumen an der anderen Seite.
Während Banks die Getränke holen ging, sah Michelle den Kindern zu. Ein Mädchen war ungefähr sechs oder sieben, hatte herrliche goldene Locken und lachte aus vollem Halse, je höher es schaukelte. Melissa. Michelle hatte das Gefühl, ihr zerspringe das Herz in der Brust. Sie war erleichtert, als Banks mit einem Pint für sich und einem Shandy für sie zurückkam und zwei Speisekarten auf den Tisch legte.
»Was ist passiert?«, fragte er. »Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.«
»Kann sein«, entgegnete sie. »Prost.« Sie stießen an. Banks war diplomatisch, stellte Michelle fest; er war neugierig, aber sensibel und rücksichtsvoll genug, um sie nicht weiter zu bedrängen. Stattdessen tat er so, als lese er die Speisekarte. Das gefiel Michelle. Sie hatte keinen großen Hunger, bestellte aber ein Shrimps-Sandwich, um nicht auf ihren mangelnden Appetit angesprochen zu werden. Um ehrlich zu sein, war ihr Magen vom Wein am vergangenen Abend noch übersäuert. Banks schien einen Bärenhunger zu haben, denn er wählte einen großen Yorkshire Pudding mit Würstchen.
Nachdem sie bestellt hatten, lehnten sie sich auf den Stühlen zurück und entspannten sich. Sie saßen im Schatten einer Buche, wo es warm war, ohne dass ihnen die Sonne auf den Pelz brannte. Banks trank sein Bier und zündete sich eine Zigarette an. Für jemanden, der rauchte, trank und riesige Portionen Yorkshire Pudding mit Würstchen aß, hatte er keine schlechte Figur, fand Michelle. Wenn er wirklich mit Graham Marshall zur Schule gegangen war, musste er jetzt um die Fünfzig sein. War das nicht das Alter, in dem Männer sich langsam um ihre Arterien und den Blutdruck Sorgen machten ? Von der Prostata ganz zu schweigen ? Aber sie war auch nicht viel besser. Zwar rauchte sie nicht, aber sie trank zu viel und aß häufig Fastfood.
»Und, was können Sie mir noch über Graham Marshall erzählen?«, fragte sie.
Banks blies langsam den Rauch aus. Schien ihm Spaß zu machen, oder war das seine Taktik, um im Gespräch die Oberhand zu gewinnen? Jeder hatte irgendeine Taktik, selbst Michelle, auch wenn es ihr schwer gefallen wäre, sie genau zu definieren. Sie hielt sich für ziemlich direkt. Schließlich antwortete Banks: »Wir waren Freunde, in der Schule und auch außerhalb. Graham wohnte ein paar Häuser weiter, und in dem Jahr, als er in Peterborough wohnte, gehörten wir zu einer kleinen Clique, wir waren fast unzertrennlich.«
»David Grenfell, Paul Major, Steven Hill und Sie. Bisher hatte ich nur Zeit, David und Paul ausfindig zu machen und mit ihnen zu telefonieren, aber keiner von beiden konnte mir viel
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