Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
geradewegs in die Kirchenmauer gebaut. Die Bücher rochen schimmelig, aber man fand hier die ausgefallensten Dinge. Annie hatte schon mehrmals herumgestöbert, nach alten Kunstbänden gesucht und sogar ein, zwei ordentliche Drucke zwischen den Kisten im hinteren Teil des Ladens gefunden, auch wenn sie durch Feuchtigkeit gewellt waren und Farbe verloren hatten.
Die Decke war so niedrig und der kleine Raum so vollgestopft mit Büchern, dass man sich bücken und vorsichtig vorantasten musste. Die Bücher standen nicht nur in den Regalen an der Wand, sondern stapelten sich auch auf den Tischen und fielen schon um, wenn man sich ihnen nur näherte. Für Luke musste es noch schwerer gewesen sein, denn er war größer und schlaksiger als Annie.
Norman Wells, der Inhaber, war höchstens einen Meter fünfzig groß, hatte schütteres braunes Haar, ein knollenförmiges Gesicht und wässrige Augen. Da es in dem Laden auch bei schönstem Wetter kalt und feucht war, trug er stets eine mottenzerfressene graue Strickjacke, Wollhandschuhe mit abgeschnittenen Fingern und einen alten Schal von Leeds United. Der kleine Laden konnte nicht viel abwerfen, auch wenn die Nebenkosten sicher nicht sehr hoch waren. Selbst im tiefsten Winter war ein elektrisches Heizelement die einzige Wärmequelle.
Norman Wells schaute kurz von seinem Taschenbuch auf und nickte Annie zu. Als sie ihn ansprach und ihren Dienstausweis zückte, war er überrascht.
»Ich hab Sie schon mal gesehen, oder?«, fragte er und nahm die Lesebrille ab, die er an einem Band um den Hals trug.
»Ich bin ein-, zweimal hier gewesen.«
»Meine ich doch. Ich vergesse kein Gesicht. Kunst, stimmt's?«
»Bitte?«
»Sie interessieren sich für Kunst.«
»Oh, ja.« Annie zeigte ihm das Foto von Luke. »Kennen Sie den?«
Wells war alarmiert. »Natürlich. Das ist der Junge, der verschwunden ist, oder? Einer von eurer Bagage war letztens hier und hat nach ihm gefragt. Ich hab alles erzählt, was ich weiß.«
»Das glaube ich Ihnen, Mr. Wells«, sagte Annie. »Aber es hat sich was verändert. Wir ermitteln jetzt in einem Mordfall, wir müssen das Ganze noch mal von vorne aufrollen.«
»Mord? Der Junge ist ermordet worden?«
»Leider ja.«
»Du meine Güte. Das wusste ich nicht. Wer würde denn ...? Der hat doch keiner Fliege was zuleide getan.«
»Also kannten Sie ihn besser?«
»Besser? Nein, das würde ich nicht sagen. Aber wir haben uns unterhalten.«
»Worüber?«
»Über Bücher. Er hatte viel mehr Ahnung als die meisten in seinem Alter. Was er las, ging weit über das hinaus, was junge Leute in seinem Alter sonst lesen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich ... ach, egal.«
»Mr. Wells?«
»Sagen wir so: Ich hab ihm Tipps gegeben, mehr nicht. Ich kenne mich mit solchen Sachen aus, und der Junge war fast ein Genie.«
»Ich hab gehört, er hätte bei seinem letzten Besuch bei Ihnen zwei Bücher gekauft.«
»Ja, hab ich schon Ihrem Kollegen erzählt. Schuld und Sühne und Ein Porträt des Künstlers als junger Mann.«
»Das klingt ziemlich fortgeschritten, selbst für einen wie ihn.«
»Glauben Sie mir«, widersprach Wells. »Wäre er nicht reif genug dafür gewesen, hätte ich ihm die Bücher nicht verkauft. Er hatte schon T. S. Eliots The Waste Land, viel von Camus und die Dubliners gelesen. Ich fand, er war noch nicht weit genug für Ulysses oder Pounds Cantos, aber mit dem Porträt würde er ganz bestimmt zurechtkommen.«
Annie war beeindruckt. Sie kannte die Titel, hatte allerdings nur Eliot und einige Kurzgeschichten von Joyce in der Schule gelesen. Also waren die Bücher, die sie in Lukes Zimmer gesehen hatte, nicht reine Angeberei, er las sie tatsächlich und verstand sie offenbar auch. Mit fünfzehn hatte sie historische Erzählungen und Märchen über Schwerter und Magie gelesen, keine ernsthafte Literatur. Die war der Schule vorbehalten und durch tätige Mithilfe des Englischlehrers, Mr. Bolton, zum Gähnen langweilig gewesen. Bei ihm klang alles so aufregend wie ein verregneter Sonntagsausflug ans Meer.
»Wie oft ist Luke bei Ihnen vorbeigekommen?«, fragte Annie.
»Ungefähr einmal im Monat. Oder wenn er was Neues zu lesen brauchte.«
»Er hatte doch genug Geld. Warum ist er nicht zu Water-stone's gegangen und hat sich seine Bücher da gekauft?«
»Fragen Sie mich nicht. Als er zum ersten Mal reinschaute, kamen wir ins
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