Inspector Barnaby 01 Die Rätsel von Badgers Drift 02 Requiem für einen Mörder
noch einmal Revue passieren.
Mittags hatte sie sich den Kopf zerbrochen, wie sie sich die endlos lange, einsame Zeit bis zum Abend vertreiben sollte, aber dann, so etwa um ein Uhr hatte sie, gestärkt durch einen kleinen Sherry, allen Mut zusammengenommen und Michael Lacey angerufen, um ihn daran zu erinnern, daß sie schon über eine Woche nichts voneinander gehört hatten und daß er doch ein Bild von ihr malen wollte. Was hatte sie schon zu verlieren? Zu ihrer Überraschung und Freude erklärte er sich auf Anhieb bereit, zu ihr zu kommen. Er sagte sogar: »Ich wollte mich gerade bei dir melden.«
Sie nahm eine Quiche aus dem Gefrierfach, steckte sie in die Mikrowelle, badete hurtig und probierte in aller Hast drei verschiedene Kleider an. Sie experimentierte sogar mit Barbaras Make-up. Eine halbe Stunde später stand Michael mit einem Skizzenblock vor ihr und forderte sie prompt auf, sich das Gesicht zu waschen.
Sie brachte die Quiche in den Garten, und er zeichnete sie zwei Stunden lang mit raschen, entschlossenen Bleistiftstrichen. Er war ganz auf seine Arbeit konzentriert, und sie bemühte sich, still zu sitzen und ihn nicht die ganze Zeit anzusehen. Er riß viele Skizzen von dem Block ab und warf sie weg. Nicht wütend - er ließ die Blätter einfach auf den Boden fallen wie ein Baum sein Laub. Um vier Uhr häufte sich Papier um seine Füße, und er steckte ein halbes Dutzend Zeichnungen in seine Mappe. Judy kochte Tee, und sie setzten sich auf die Holzbank, die die Zeder umgab, tranken Tee und aßen Ingwerkuchen.
»Kann ich eine von diesen haben?« fragte sie und hob ein paar ausgemusterte Skizzen auf.
»Nein.«
»Oh, aber Michael«, sie betrachtete eine Zeichnung, »sie ist wunderschön.«
»Sie ist grauenvoll. Alle sind schrecklich. Versprich mir, daß du sie verbrennst oder in den Papierkorb wirfst.«
Sie nickte betrübt und schenkte ihm Tee nach. Er schlug seine Mappe auf und reichte ihr nach einer Weile eine der gelungenen Skizzen. »Die hier kannst du behalten.«
Es war alles da. Der traurige Zug um den Mund, die schönen Augen, die plumpen Finger, die die Teekanne hielten, die kräftige und doch nachgiebige Nackenlinie. Er hatte die Zeichnung mit M. L. signiert. Sie war naturgetreu und unbarmherzig. Sie fühlte, wie ihre Augen brannten und ihre Kehle eng wurde, wußte aber, daß ihn nichts mehr gegen sie aufbringen würde als Tränen. Sie blinzelte ein paarmal.
»Hey, Judy ...«, sang er leise, »don’t be afraid...« Er stellte seine Tasse ins Gras und berührte ihren Arm. »Du solltest von hier wegziehen. Weg von diesem jämmerlichen Paar.«
Sie verschluckte sich fast an ihrem Tee. »Das ist leichter gesagt als getan.«
»Ach, ich weiß nicht. Wenn ich durch Europa reise, werde ich jemanden brauchen, der mir die lästigen Dinge abnimmt und Modell sitzt. Vielleicht nehme ich dich mit.« Und dann küßte er sie. Auf den Mund.
Jetzt schloß Judy die Augen wieder wie gestern bei diesem Kuß. Sie roch die Zedernnadeln und den süßen Ingwer, sie spürte dieselben feuchten Kuchenkrümel an ihren Fingerspitzen und hörte die Amsel singen. Der Kuß hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert. Und hundert Jahre. An diesen Augenblick werde ich mich ein Leben lang erinnern, schoß es ihr durch den Kopf, aber noch ehe sie den Gedanken zu Ende gebracht hatte, war alles vorbei.
»Ich habe dich gefragt, ob du noch Kaffee willst.«
Judy sah ihre Stiefmutter ausdruckslos an. »Nein, danke.«
»Trevor?«
Keine Antwort. Barbara bediente sich selbst, blätterte die letzte Ausgabe von Country Life durch und warf sie angewidert beiseite. Noch mehr von diesem Schwachsinn, und sie lief in wollenen Strumpfhosen und Schnürschuhen durch die Gegend. Kein Mensch las diese Zeitschrift. Sie wanderte sofort ins Wartezimmer. Barbara beschloß, das Abonnement zu kündigen und dafür eine >pikante< Zeitung zu bestellen. Das würde den Blutdruck der alten Knacker in der Praxis ein bißchen in die Höhe treiben. Sie knabberte an ihrem gebutterten Toast und warf einen verstohlenen Blick auf die Krawatte ihres Mannes. Was für ein Morgen! Erst die Attacke auf das unschuldige Ei und dann auch noch Judy, die aussah, als wäre sie einem Reklameposter von McDonald’s entsprungen. Sie sah auf ihre mit Diamanten besetzte Armbanduhr - sie mußte nur noch sechs Stunden bis zum nächsten Schäferstündchen warten. Es klingelte.
»Wer, zum Teufel, kommt
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