Inspector Barnaby 01 Die Rätsel von Badgers Drift 02 Requiem für einen Mörder
dürfe. Als sie ein Kind war, hatte sie angenommen, das verbiete sich, weil sonst die Toten, wenn man ihnen nur die Gelegenheit dazu gäbe, zurückkämen und sich an einem rächen würden. Später änderte sie diese Meinung, indem sie die Erkenntnis einschloß, daß a) wenn man nur nette Sachen über Tote sagte, sie vielleicht ein gutes Wort für einen einlegen würden, wenn man selbst an der Reihe war, und b) daß es einfach unehrenhaft war, Menschen anzugreifen, die sich nicht mehr wehren konnten.
Nun aber war sie bereit, wenn auch zaghaft und ein wenig ängstlich, ein Gefühl zu entdecken - ja, sogar als gegeben hinzunehmen -, sich etwas einzugestehen, wovon sie ihr Leben lang gehofft hatte, sie würde für immer frei davon sein. Sie rief sich Esslyns Benehmen den anderen Schauspielern gegenüber ins Gedächtnis zurück. Seine Herablassung und seinen Hohn; seine Rücksichtslosigkeit ihren Gefühlen gegenüber, seine unerschütterliche Ichbezogenheit und sein großspuriges, geckenhaftes Auftreten. Sein Lachen und seinen Spott, der sich gegen ihren Vater gerichtet hatte. Sie hielt den Atem an, ihre geballten Fäuste lagen in dem parfümierten Wasser, und Dierdre wurde mehr oder weniger kraß eine schreckliche neue Erkenntnis über sich selbst bewußt. Sie hatte Esslyn gehaßt. Ja. Gehaßt. Und was noch schlimmer war, sie warfroh darüber, daß er tot war.
Ihr Gesicht war kreidebleich. Sie öffnete die Augen, starrte an die Decke und wartete auf eine Mißfallensbekundung Gottes. Auf einen Donnerschlag. Da man ihr als Kind eingebleut hatte, daß jedesmal, wenn sie log, ein Donnerschlag ertönen würde und es nur Gottes allesvergebende Liebe sei, die ihn davon abhielt, augenblicklich über sie hereinzubrechen, hatte sie versucht, sich diese himmlische Waffe der Vergeltung vorzustellen, aber alles, was ihrem jungen Geist dazu einfiel, war der Blitz auf der Küchentür, tausendfach vergrößert und in schimmernder Bronze. Es brach jedoch nichts auch nur annähernd Vergleichbares durch die Badezimmerdecke der Barnabys.
Bei der Erkenntnis, daß sich daran auch nichts ändern würde und sie fortan ohne Angst vor göttlicher Rache froh darüber sein konnte, daß Esslyn nicht mehr in der Lage war, jemandem Schmerz oder Ärger zuzufügen, brach eine Woge über Dierdre herein, die viel zu mächtig war, um sie nur als Erleichterung zu bezeichnen. Sie lag benommen da und konnte an diese neue Wahrheit noch nicht so ganz glauben. Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand ein riesiges Joch von den Schultern genommen oder schwere Ketten von ihren Beinen und Füßen entfernt. Jede Minute war damit zu rechnen, daß sie bis unter die Decke schweben konnte. Sie fühlte sich zwar schwach, war aber weit davon entfernt, hilflos zu sein. Sie empfand ihre Schwäche vielmehr in einer Form, wie sie starken Menschen manchmal zustößt: also nicht als chronischen Zustand, sondern als Akzeptanz eines zeitweiligen dringenden Ruhe- und Erholungsbedürfnisses. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte ihren Toast gegessen.
Nach ein paar weiteren schläfrigen Minuten drehte sie das heiße Wasser auf und griff nach dem Celandine- und Marshmallow-Badeöl. Wenn schon ein Fingerhut davon so eine Wirkung hat, dachte Dierdre, was würde dann erst eine halbe Tasse davon bewirken?
Barnaby, der den Bericht vom Tatort und die Zeugenaussagen studiert hatte, saß regungslos da, starrte die Wand seines Büros an, die Lippen gespitzt und den leeren Blick auf einen imaginären Beobachtungspunkt meilenweit entfernt gerichtet. Troy, der das alles kannte, ließ sich nicht täuschen. Der Sergeant hatte auf einem der Besucherstühle (Chromgestell und Tweedpolster) Platz genommen und blickte zum Fenster hinaus auf den dunklen Regen, der gegen die Scheibe prasselte.
Er hätte vor Gier nach einer Zigarette sterben mögen, brauchte aber nicht erst auf das Nichtraucherzeichen an der Tür zu schauen, um sie gar nicht erst anzuzünden. Er war daran gewöhnt, den ganzen Tag mit einem Frischluftfanatiker eingesperrt zu sein. Was ihn dabei am meisten ärgerte, war der Umstand, daß der Chefinspektor zu seiner Zeit ein Kettenraucher gewesen war, der mindestens fünfzig Stück am Tag gequalmt hatte. Bekehrte Raucher sind eben - genauso wie bekehrte Sünder - die allerschlimmsten. Die eigene Leistung genügt ihnen nicht, dachte Troy, sondern sie fühlen sich zu allem Überfluß auch noch dazu berufen, die Uneinsichtigen zu missionieren oder zu verdammen. Und
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