Inspector Jury besucht alte Damen
Er saß jetzt vorgebeugt, hatte die Finger verschränkt und blickte auf ein paar abgestorbene Nesseln. Natürlich konnte er diese unausgesprochene Frage nicht beantworten. Statt dessen sagte er: «Ihre Überraschung war nicht gespielt. Tommy sieht aus wie Ihr Großvater in dem Alter.»
«Ich muß eine Enttäuschung für ihn gewesen sein – für meinen Großvater.»
Jury blickte stirnrunzelnd auf. «Aus welchem Grund?»
Mit abgewandtem Gesicht sagte sie achselzuckend: «Linkisch, schüchtern, unansehnlich –» Wieder hob sie die Schultern. «Ziemlich unsinnig, solche Gedanken unter diesen Umständen.»
Hatte sie wirklich jedesmal beim Erklimmen der Treppe ihr eigenes Porträt angesehen und so etwas gedacht? «Sie haben Ihren Großvater wirklich geliebt, nicht wahr?»
Ein heftiges Kopfnicken. «Eleanor auch. Ich bin froh, daß Simon tot ist. Ich bin froh, daß wir – beide außer Gefahr sind.» Sie drehte sich um, die Hände in den Taschen des Tweedrocks vergraben, und blickte ihn entschlossen an. «Eleanor wäre die nächste gewesen, Superintendent. Haben Sie daran gedacht?»
Natürlich glaubte sie nicht, daß sie außer Gefahr war.
«Oh, oft genug.»
Ein Weilchen sagte sie nichts, stand nur so da. «Dann wird man mich vermutlich des Mordes anklagen. Hannah Lean dürfte eine ideale Verdächtige abgegeben haben: kein Alibi, aber Gelegenheit und genug Motive für zehn Verdächtige.»
«Aber Sie sind Hannah Lean.»
Sie kam zur Bank zurück, griff nach dem Korb und sagte: «Sind Sie ganz sicher, Superintendent?»
35
«U ND , SIND S IE DAS ?» fragte Melrose Plant.
Sie saßen vor dem Kamin im Salon, Jury auf dem Sofa, Melrose in seinem bequemen, alten Ohrensessel, dessen Leder schon ganz rissig und trocken war.
Doch Jury lächelte nicht. Wenn er sich doch auch so entspannen und die Ruhe genießen könnte wie die bejahrte Hündin Mindy. Scheinbar machte sie kaum etwas anderes, als an bestimmten Plätzen im Haus den Bettvorleger zu spielen. Jetzt schlummerte sie vor dem Kamin.
«Recht beunruhigend», fuhr Melrose fort, als Jury nicht antwortete. «Ich meine, der Gedanke, daß jemand die Stirn hat, jemand anderen darzustellen, der wiederum ihn selbst darstellt. Das ist, als teilte man bei einem Kartenspiel gleichzeitig von oben und von unten aus. Da stellt sich doch die Frage, ob man überhaupt wissen kann, wer der andere wirklich ist.»
Auch darüber lächelte Jury nicht. «Haarscharf Eleanor Summerstons Worte.»
Feierlich betrat Ruthven mit einem silbernen Kaffeeservice und einem Telefon den Raum. «Ihr Sergeant bittet um Ihren Rückruf, Sir.» Er reichte Jury einen Zettel und setzte das Tablett ab. Dann machte er sich daran, das Telefon einzustöpseln, und fragte dabei Melrose: «Um welche Uhrzeit wünschen Sie zu speisen, M’lord?»
«So gegen acht. In Ordnung?» fragte er Jury.
Jury nickte, und Ruthven räusperte sich und stieß seine behandschuhte Faust, in Vorbereitung eines rhetorischen Aufwärtshakens, leicht gegen sein Kinn. «Ihre Tante hat Martha wissen lassen, daß sie Ihnen beim Essen Gesellschaft leistet.» Das hörte sich an wie ein Totengeläut. Vom anderen Ende des Zimmers fiel teilnahmsvoll die Standuhr ein und ließ wissen, daß es sechs Uhr abends war.
«Es wäre nett, wenn sie das mir , dem glücklichen Gastgeber, mitteilen würde. Was gibt es denn?»
«Ein ausnehmend wohlgeratenes Spanferkel, Sir.»
«Von Jurvis?»
«Gewiß doch, Sir. Mr. Jurvis hat weit und breit die beste Auswahl an Fleisch. Und zu angemessenen Preisen, möchte ich hinzufügen.»
Melrose überlegte. «Wir könnten ihm ja den Apfel aus dem Maul nehmen und ihm statt dessen ein Schild umhängen: ‹Sonderangebot: 79 Pence›. Nein, ich habe eine bessere Idee: Wie wäre es, wenn wir meine Tante anriefen und ihr sagten, daß sie uns keine Gesellschaft leisten wird.» Er betrachtete Jury beim Betrachten des Feuers. «Sagen Sie ihr, daß wir beide eine ansteckende Krankheit haben oder so ähnlich. Sie wissen doch, wie man das macht, Ruthven; Sie lügen vortrefflich.»
Ruthven verneigte sich ein wenig. «Danke, Sir. Genau das werde ich jetzt tun.» Er entschritt zwar gravitätisch, doch Melrose war überzeugt, daß er dabei eine Anwandlung von Schadenfreude unterdrückte.
Wiggins sagte, er habe versucht, Jury auf Watermeadows anzurufen, doch er sei schon fort gewesen. Noch keine Antwort wegen des Postschecks. «Mr. Crick hat gesagt, daß Master Tommy bei Lady Summerston ist, Sir.»
«Ich weiß. Wir müssen
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