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Inspector Jury besucht alte Damen

Inspector Jury besucht alte Damen

Titel: Inspector Jury besucht alte Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Superintendent wollte er auch nicht erwidern. Er kam ohne großes Trara, ohne Trauer oder gar Gewissensbisse zur Sache, ja, er bemühte sich nicht einmal um die üblichen Platitüden, die von dem offenkundigen Mangel an Gefühl abgelenkt hätten. Er hatte die Fragen der Polizei von Wapping beantwortet; er hatte die Leiche seiner Nichte gesehen; er wollte lediglich seinen Neffen abholen – auf den er offensichtlich wütend war, weil er die Familie gefoppt hatte – und dann nach Gravesend zurück.
    «Tut mir leid, wenn wir Ihnen Umstände machen, aber ich möchte Tommy noch für ein, zwei Tage hierbehalten, in London. Er ist hier gut aufgehoben.»
    «Dabehalten? Wir wollen ihn mitnehmen und damit basta.»
    «Nicht ganz so basta. Wir brauchen ihn noch für unsere Ermittlungen.»
    Mulholland stieg das Blut ins kantige Gesicht; er kniff den Mund zusammen, bis seine Lippen vor Zorn bläulich anliefen. «Der weiß doch nichts, was wir Ihnen nicht auch sagen könnten.»
    «Vielleicht doch. Er kam kurz nach dem Mord an Sarah hier an. Und er hat sie gut gekannt. Wirklich, Mr. Mulholland, der Junge wird ja hier nicht mit glühenden Eisen gezwackt. Wir wollen uns darüber nicht streiten. Ich würde sowieso gewinnen.» Jury lächelte. «Bitte, nehmen Sie doch Platz.»
    Falls Mulholland sich weigerte (was er tat), konnte Jury ihn wenigstens dadurch aus dem Konzept bringen, daß er sich selbst einen Stuhl heranzog. Wiggins tat es ihm nach und holte sein Notizbuch und ein frisches Taschentuch hervor, als hätten sie Zeit in Hülle und Fülle.
    «Es tut mir sehr leid, das mit Ihrer Nichte», sagte Jury und blickte von einem zum anderen. Der Onkel funkelte ihn böse an. Die Tante blickte weg. Möglicherweise hatte der Sergeant mit seinem Taschentuch etwas bei ihr ausgelöst, jedenfalls zog sie auch eins aus der Tasche. Es war, als hätte ihr jemand anders die Erlaubnis erteilt, Gefühle zu zeigen, die sie für gewöhnlich unterdrücken mußte, wenn ihr Mann zugegen war.
    Gladys Mulholland konnte einem leid tun, wie sie das Taschentuch rasch wieder vom Mund nahm, als ihr Mann ihr einen finsteren Blick zuwarf. Und Tommy Diver konnte einem noch mehr leid tun. Wie gut, daß er heil und sicher im «Starrdust» war. Jury brauchte nicht besonders viel Phantasie, um sich vorzustellen, was ihn bei der Rückkehr nach Gravesend erwartete; ihm genügte die Erinnerung daran, was er selbst im gleichen Alter erlebt hatte. Nur hatte er mit seinen Verwandten mehr Glück gehabt; sie waren richtig nett gewesen, bis der Onkel starb und sich die Tante gezwungen sah, ihn wegen ihrer finanziellen Notlage in ein Waisenhaus zu geben.
    «Sind Sie sicher, daß es sich bei der Toten um Ihre Nichte handelt?»
    «Ob ich sicher bin? Mann, ich sollte doch wohl meine eigene Nichte kennen.» John Mulholland gehörte nicht zu der Sorte, die viel Umschweife machte, nicht einmal dann, wenn Umschweife geboten schienen. Als Zeuge völlig unbrauchbar, dachte Jury. Einer von den Menschen, denen ihr Ego oder Stolz bei jeder Identifizierung im Wege steht. Die Art Zeuge, die möglicherweise den Falschen auf die Anklagebank schickten.
    Gladys Mulholland jedoch beugte sich verdutzt vor. «Glauben Sie etwa, sie ist es nicht? Nicht unsere Sarah?»
    Bei «unsere Sarah» schnaubte Mulholland.
    Jury beantwortete die Frage mit einer anderen. «Was war sie für ein Mensch, Mrs. Mulholland?»
    Daß er eine so harmlose Frage stellte und sich überhaupt für ihre Nichte und ihre Meinung über ihre Nichte interessierte, das stimmte sie unsicher und froh zugleich. Die Spannung löste sich. Die Arme, gespannt wie ein Draht, lockerten sich; die zusammengepreßten Beine öffneten sich ein wenig. Sie erinnerte Jury an eine Marionette, deren Fäden jemand losgelassen hatte.
    Es war ihr Mann, der hatte loslassen müssen. Der wandte das Gesicht jetzt brüsk dem Fenster zu, das auf die Themse ging. Eine Frage, die nicht an ihn gerichtet war, lohnte sowieso die Antwort nicht. Jury hatte vor, ihn zumindest für kurze Zeit auszuschalten. Mrs. Mulhollands Bericht würde sonst immer wieder unterbrochen werden.
    Als sie erzählte, was für ein liebes Mädchen Sarah doch gewesen sei, stand Jury von seinem Stuhl auf und bedeutete Wiggins mit einem Kopfnicken, mit der Befragung weiterzumachen. Jury selbst stellte sich neben den Mann; er zündete sich eine Zigarette an und bot Mulholland die Zigarre an, die er Racers Humidor entnommen hatte. Der Mann blickte mißtrauisch, doch der Wunsch nach einer Zigarre

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