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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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herein.» Es waren nur noch wenige Schritte bis zu seiner Haustür.
    Das Pfarrhaus war recht gemütlich, für Jurys Geschmack vielleicht etwas zu vollgestopft. Während der Priester sich auf die Suche nach seiner Haushälterin machte, die ihnen Tee kochen sollte, setzte Jury sich in einen wuchtigen Sessel; die Cretonnerosen auf dessen Bezug hoben sich kaum noch vom Dunkel des Hintergrunds ab. Auf dem Tisch neben ihm lag ein Stapel Zeitschriften. Er nahm eine davon zur Hand: Semiotique et Bible. Er warf einen Blick hinein und legte sie eingeschüchtert wieder auf ihren Platz.
    In diesem Moment kam Pater Rourke zurück. «Ah, Sie interessieren sich für Strukturalismus, Superintendent?» fragte er.
    Jury lächelte. «Ich weiß nicht einmal, was das ist.»
    «Verstehe. Nun, es ist einfach eine andere Art, das Evangelium auszulegen. Die Strukturalisten sind stärker interessiert an der Art und Weise, wie der Verstand sich an die Botschaft des Evangeliums herantastet, als an der Wahrheit selbst. Wenn Sie verstehen, was ich meine.»
    Jury zuckte die Achseln. «Tue ich nicht. Könnten Sie’s genauer erklären?»
    Der Priester verzog die Lippen zu einem Lächeln. «Genauer gesagt heißt das vielleicht nur, daß nichts wirklich eine besondere Bedeutung hat.» Er deutete auf die Zeitschrift, in der Jury geblättert hatte. «Semiotik ist so etwas wie die Lehre von den Zeichen.» Er stöberte durch einige Broschüren, wobei er eine kleine Papierlawine auslöste, fand einen Füller und zeichnete etwas auf die Rückseite einer Zeitschrift. Er hielt seine Zeichnung hoch, die aus nichts als einem Quadrat mit zwei Diagonalen bestand, die sich im Mittelpunkt kreuzten. «Das Viereck als Grundmodell unseres Daseins. Wir leben in Gegensätzen, nicht wahr? Leben, Tod. Denken, Instinkt. Wir denken in Gegensätzen.» An jeder der vier Ecken notierte er einen Buchstaben, immer denselben: ein R.
    «Eigentlich müßten gerade Sie an diesem Gedanken Gefallen finden.» Wieder dieses kleine Lächeln, dieser scharfe Blick durch die Brillengläser. «Vielleicht wird man eines Tages ein paradigmatisches Muster entwickelt haben, das umfassend genug ist, um allen Möglichkeiten Rechnung zu tragen.» Pater Rourke riß die hintere Umschlagseite der Zeitung ab und gab sie Jury. «Eine Struktur, die das Denken vereinfachen könnte.»
    Jury lachte, faltete das dicke Papier zweimal und steckte es in die Hosentasche. «Pater Rourke, mich jedenfalls haben Sie eher heillos verwirrt. Wofür steht übrigens das R ?»
    Der Priester sah ihn belustigt an. «Nun kommen Sie, Superintendent! Für Rätsel natürlich. Finden Sie die Lösung. Es ist alles nur eine Auslegung von Zeichen.» Er zuckte die Achseln. So einfach war das.
    «Und diese Methode bevorzugen Sie auch bei der Auslegung des Evangeliums?»
    Der Priester faltete die Hände über seinem Bauch, ließ den Blick durch den Raum schweifen und schien zu überlegen, wie er sich Jury am besten verständlich machen könnte. «Nein. Ich ziehe die psychologische Methode vor. Träume, Phantasien – sind sie nicht wie Wunder und Gleichnisse? Da ist soviel, was an Freud gemahnt. Man muß nur die Römerbriefe des Paulus lesen. Oder die Geschichte vom Verlorenen Sohn – liest sie sich nicht wie eine Variante des Ödipus-Mythos? Wenn man die Heilige Schrift studiert und dabei auf Auslassungen, auf Schnitzer, auf Lücken stößt» – seine alten Augen funkelten wie Kristallglas, als er Jury zulächelte –, «sollte das auch für einen Polizisten interessant sein. Sie erleben das doch ständig – die kleinen Unstimmigkeiten in den Aussagen von Verdächtigen und so weiter. O ja, hätte ich nicht den Talar gewählt, wäre ich jetzt bestimmt ein Bulle; und wahrscheinlich kein guter. Aber was tue ich – ich halte Ihnen hier lang und breit Vorträge über Bibelauslegung, während Sie doch wegen einer ganz anderen Sache gekommen sind. Sie wollen etwas über Helen Minton erfahren.»
    «Ja.»
    Inzwischen hatte eine mürrische Haushälterin den Tee hereingebracht, die nun stirnrunzelnd und die Hände über ihrer großen weißen Schürze gefaltet dastand, wohl um zu sehen, ob die Rosinenbrötchen – kleine Dinger, so platt wie Pfannkuchen – dem Pater zusagten. Jury vermutete, daß dieser die Allgegenwart ihrer wachsamen Argusaugen gewohnt war, denn er dankte ihr nur und bedeutete ihr zu gehen, woraufhin sie davonschlich wie vorher die räudige Katze.
    «Helen Minton», sagte der Priester, während er Marmelade auf ein

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