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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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betrachtete mit nachdenklichem Stirnrunzeln die Wände, als müsse er sich schwer konzentrieren, um seinem Gedächtnis dieses entscheidende Faktum zu entlocken. Er sagte nichts. Die Fahrer des Krankenwagens und der medizinische Sachverständige kamen zur Tür herein und wurden von Cullen nach oben gewiesen.
    Cullen steckte das Notizbuch in seine Tasche, winkte Jury zu sich heran und sagte: «Kommen Sie mit aufs Revier, wenn wir hier fertig sind. Ich lad Sie dann zu ’ner Tasse Kaffee ein; Sie sehen aus, als könnten Sie eine brauchen, Mann.»
     
     
    D AS P OLIZEIREVIER VON N ORTHUMBRIA war ein großer, funkelnagelneuer Glas- und Betonkasten in der Nachbarschaft eines ebenso neuen Einkaufszentrums mit einem klingenden Namen und einem riesigen Parkplatz. Jury verstand nicht, woher die Käuferscharen kommen sollten, die nötig waren, um diese gewaltige Ansammlung kleiner und großer Geschäfte am Leben zu erhalten. Der ganze Komplex, umädert von Schnellstraßen und Zubringern und kaum eine Meile von Washingtons Dorfanger entfernt, erinnerte ihn an einen Dinosaurier, der von einem Blatt satt werden muß.
    Als sie auf dem Revier eintrafen, war Constable Trimm noch mit den Magruders beschäftigt. Sue-Ann zerknüllte ihr Taschentusch mit unverminderter Inbrunst; ihr Gatte schien inzwischen etwas geschrumpft zu sein.
    Ein Polizist kam herein und stellte das Pillenfläschchen auf Cullens Schreibtisch. Cullen hielt es ans Licht, schüttelte es und warf dann einen Blick in den Bericht. «Kardiothymie. Herzrhythmusstörungen. Dieses Zeug reguliert den Herzrhythmus.» Er sah Jury an. «Was war los mit ihrem Herz?»
    Jury zuckte die Achseln. «Sie sagte, das Medikament habe unangenehme Nebenwirkungen.»
    «Die hatte es allerdings», sagte der Polizist.
    Falls dies ein kleiner Scherz sein sollte, so fand Cullen ihn jedenfalls nicht witzig genug, um darüber das Gesicht zu einem Lächeln zu verziehen.
    «Das Mittel sollte den Herzschlag regulieren , nicht anhalten», fügte Jury hinzu.
    Cullen überflog das Blatt, das vor ihm lag, schob es beiseite und sagte: «Vielleicht eine Überdosis.»
    «Nein.»
    Cullen merkte auf. Er schob sich einen neuen Streifen Kaugummi in den Mund. «Und woher wissen Sie das so genau?»
    «Schauen Sie sich das Datum und die Anwendungshinweise auf der Flasche an. Sie sollte die Tabletten nur im Bedarfsfall nehmen, und es fehlt kaum eine.»
    «Also kein Selbstmord, wollen Sie damit sagen?»
    «Das wußte ich ohnehin.»
    Cullens Augenbrauen wanderten in gespielter Verblüffung aufwärts. «Seid ihr Burschen in London hellsichtig?»
    «Nein. Wir hören Stimmen.» Er war drauf und dran, die Beherrschung zu verlieren. Aber es wäre dumm gewesen, sich mit Cullen anzulegen. Er lächelte. «Ich weiß es, weil ich mit ihr verabredet war. Wir wollten uns in Old Hall treffen und später gemeinsam zu Abend essen. Ganz abgesehen davon – selbst wenn es Selbstmord war, warum zum Teufel an so einem öffentlichen Ort?»
    Genüßlich an seinem frischen Kaugummi mummelnd, lehnte Cullen sich zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. «Tja, nach der Autopsie werden wir mehr wissen. Sie war noch nicht lange tot. Höchstens zwei, drei Stunden. Wie lange kannten Sie sie schon?»
    Jury wußte: Wenn er Cullen erzählte, daß er sie erst gestern kennengelernt hatte, würden alle Informationen, mit denen er aufwarten konnte, bestenfalls als nebensächlich betrachtet werden. «Schon sehr lange», sagte er.
    Er hatte das Gefühl, die Wahrheit zu sagen.
     
    Und er war durchaus in der Lage, seinen Bericht so klingen zu lassen, als hätten sie sich seit Jahren gekannt. Schließlich hatte Helen Minton ihm einiges über sich erzählt – daß ihr einziger lebender Verwandter ein Cousin war, der Bilder malte; daß sie Nachforschungen über die Washingtons anstelle; und daß sie Wohltätigkeitsarbeit für die Bonaventura-Schule leistete.
    «Aha, das Waisenhaus», sagte Cullen.
    Im Verlauf ihrer Unterhaltung hatte der Sergeant aus den nach und nach einlaufenden Berichten ein sauberes kleines Dossier über Helen Minton zusammengestellt. Jury hätte gerne einen Blick hineingeworfen, bat aber nicht darum. Alles was er wolle, so sagte er, sei, mit Cullen zusammen diesen Fall zu bearbeiten.
    Cullen grunzte. Es war vermutlich ein Laut des Einverständnisses. Das Telefon schrillte, und er nahm gleich beim ersten Klingeln ab. Wortlos hörte er zu, sagte dann: «In Ordnung», und legte auf. «Viel haben wir bisher nicht; selbst ihre

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