Inspector Jury bricht das Eis
über eine Bank.
«Na los, steh auf, ich hau dir die Birne zu Brei!» schrie der Bursche, der Nutter genannt wurde.
Der Mann hinter dem hufeisenförmigen Tresen, den Melrose für den Wirt hielt, wirkte wie ein General, dessen Truppen verrückt spielten und der machtlos zusehen mußte, wie nun ein weiterer Tisch unter dem Anprall zweier Männer zusammenkrachte, die hingebungsvoll mit den Schädeln zusammenkrachten. Das schien in diesen Gefilden ein überaus beliebter Zeitvertreib zu sein.
Mehrere Unbeteiligte, darunter ein paar Frauen, waren auf den harten Holzbänken an der Wand sitzen geblieben und verfolgten von dort aus interessiert das Geschehen. Das Ganze hat etwas von einem Schaukampf, dachte Melrose. Unterdessen war es dem Mann, der an der Tür Schmiere gestanden hatte, anscheinend zu langweilig geworden, denn er bewegte sich jetzt mit einem abgebrochenen Tischbein in der Hand drohend auf ihn zu. Melrose drückte einen Knopf am Silberknauf seines Stockes und zog den Stockdegen aus der Scheide. Der heranrückende Angreifer schien daraufhin seinen Irrtum einzusehen, jedenfalls wandte er sich ab und probierte das Tischbein am Kopf eines anderen aus.
Das Handgemenge endete so abrupt, wie Melrose es erwartet hatte. Stühle und Tische wurden wieder aufgestellt, und ehe man sich’s versah, waren die Scherben weggefegt, volle Gläser standen auf den Tischen, und alle saßen friedlich beim abendlichen Drink.
Mehrere Augenpaare wandten sich nun den vier Eindringlingen zu, und Melrose schoß der Gedanke durch den Kopf, daß seine kleine Gruppe in dieser Arbeiterkneipe bestimmt einen recht seltsamen Anblick bot: Vivian im Nerz, einem Geschenk des italienischen Grafen; Agatha in ihrem schwarzen Cape; Ruthven mit seiner Melone, die er immer noch unter die Armbeuge geklemmt hielt; Melrose in einem Mantel mit Samtkragen und mit seinem außergewöhnlichen Spazierstock. Sie paßten so gut hierher wie ein Streichquartett auf den Jahrmarkt.
«Haben Sie ein Telefon?» fragte Melrose den Wirt. «Und eine Flasche Remy?»
Der Wirt, der etwas blaß, aber sonst recht unbeeindruckt wirkte – vermutlich war er derlei Dinge gewohnt –, antwortete: «Das Telefon ist hinter der Bar, Kumpel, da an der Wand.» Vivian ging Charles Seaingham anrufen.
«Da hast du uns ja in ein schönes Lokal gebracht, Melrose», schimpfte seine Tante und marschierte mit ihrem Cognacschwenker zu einem leeren Tisch am Kamin. Ruthven ließ sich einen winzigen Schluck einschenken und setzte sich ergeben auf eine harte Bank, als sei dies das Los eines jeden Butlers. Aber bald war er in ein lebhaftes Gespräch mit seinem Banknachbarn vertieft.
Melrose wartete auf Vivian und sah sich in der Kneipe um. Trotz der Schlägerei, der spartanischen Einrichtung und der schlichten Holzmöbel bewies der Weihnachtsschmuck, daß das «Jerusalem Inn» redlich bemüht war, seinem Namen Ehre zu machen.
«Was trinken Sie?» fragte Melrose den Wirt und legte einen großen Geldschein auf den Tresen. «Worum ging’s eigentlich bei der Prügelei?»
Der Wirt, der sich als Hornsby vorstellte, dankte Melrose für den Drink und zuckte die Achseln. «Keine Ahnung, Mann. Passiert hier ständig. Nutters dummes Geschwätz hat irgend jemand gestunken, und dann gab’s eben Krach. Wenn Nutter die Schnauze nicht halten kann, dann soll sich der blöde Hund nicht wundern, wenn er mal eine verpaßt kriegt.» Er tat das Ganze mit einem erneuten Schulterzucken ab, warf einen Blick auf Melroses Stock und fragte: «Ist das Ding da erlaubt?»
«Eigentlich nicht. Kennen Sie einen gewissen Charles Seaingham? Wir wollen nämlich zu seinem Haus.»
«Mr. Seaingham? Na klar. Sie fahren durch Spinneyton – verirren können Sie sich da nicht – und nehmen dann die erste Straße nach rechts. Aber ich glaub nicht, daß Sie in diesem Schneetreiben sehr weit kommen.» Er ging zum Zapfhahn am anderen Ende des Tresens, denn der Kerl mit den Tätowierungen und ein kleiner Mann, der Melrose an eine Natter erinnerte, hatten nach Bier verlangt. Hornsby war bald wieder zurück. «Schlimme Nacht. Sind Sie aus dem Süden?»
«Aus Northants.»
Hornsby verzog das Gesicht, als gäbe es keinen südlicheren Ort auf weiter Flur.
Im «Jerusalem Inn» herrschte eine Atmosphäre verschlafener Festlichkeit. Staubiger Weihnachtsschmuck war aus Kisten gekramt und an Wänden und Decken aufgehängt worden. Auf dem großen Spiegel hinter dem Tresen klebten große grüne und rote Pappbuchstaben, die «Fröhliche
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