Inspector Jury bricht das Eis
fast, nicht in Reithosen und einem Pullover mit durchgewetzten Ellenbogen gekommen zu sein. Agatha würde tausend Tode sterben, weil sie ihr purpurnes Samtkleid und ihre Perlenkette nicht mitgenommen hatte. Die Perlenkette seiner Mutter, besser gesagt. Die Countess of Caverness hatte ihren Schmuck Agatha nicht vermacht. Aber das kümmerte Agatha nicht. Im Augenblick trug sie einen Opal, der zum Ardry-Plant-Familienschmuck gehörte.
Während sie den Anwesenden vorgestellt wurden, bemerkte Melrose, daß nicht alle ihre Abendgarderobe mit der gleichen lässigen Selbstverständlichkeit trugen wie Lady St. Leger, die eindeutig für das fürstliche Purpur wie geschaffen war, das Agatha so gern getragen hätte. Elizabeth St. Leger reichte Melrose die Hand, deren Finger ein wenig gichtig waren, was bei einer Frau ihres Alters nicht verwunderte. Sie trug eine lange Perlenkette, und ihr Kleid war tatsächlich aus Samt, aber grau und mit Rücksicht auf ihre untersetzte Figur sehr schlicht geschnitten. Es war allerdings von einer Schlichtheit, die einer Stenotypistin ein Jahresgehalt gekostet hätte.
Der Vergleich mit der Stenotypistin drängte sich Melrose beim Anblick der nächsten Dame auf, Lady Assington («Susan», flüsterte sie ihm ins Ohr, als sei ihr Vorname ein wohlgehütetes Geheimnis). In Lady Assingtons teurem grünem Kleid im Stil der zwanziger Jahre steckte unverkennbar der Typ einer kleinen Büroangestellten mit hochfahrenden Plänen, was sie vor ihrer Ehe mit Sir George Assington zweifellos auch gewesen war. Ihr Mann war dreißig Jahre älter als sie, hatte einen Schnurrbart und sah aus wie ein Herrenreiter. Er war, wie Melrose erfuhr, ein angesehener Arzt. Es mußte ja auch einen Grund geben, warum Seaingham die Anwesenheit dieser Frau in Kauf nahm. Als Sir George ihm vorgestellt wurde, betrachtete er aufmerksam Melroses Ohr oder das Gebiet um Melroses Ohr herum, legte dann wieder die Hände auf den Rücken und wandte den Rücken dem Feuer zu.
Zum Glück war das Zimmer gut beheizt, denn sonst wäre die Dame, die Melrose als Beatrice Sleight vorgestellt wurde, bereits erfroren gewesen: Ihr schwarzes Kleid hatte hinten einen tiefen Ausschnitt, vorne ein spitz zulaufendes Dekollete bis zur Taille und an den Seiten Schlitze wie drohende Pfeile. Sie hatte eine prächtige, schimmernde mahagonibraune Mähne, in der zahlreiche Lack- und Bernsteinkämmchen steckten. Eines der Kämmchen krönte ein goldener Drachen mit Rubinaugen und Saphirflügeln. Die Kämme verliehen ihrem Haar ein zerzaustes Aussehen, als käme sie soeben aus dem Bett. Wenn man sie sich so ansah, verbrachte sie auch sonst viel Zeit darin, dachte Melrose. Um den Hals trug sie ein Collier aus großen quadratischen Smaragden in emaillierten Fassungen; in dem gedämpften Licht wirkten die Steine fast schwarz. In krassem Gegensatz zu diesem Überfluß an Juwelen stand Mrs. Seainghams Anhänger: in das Mosaik eingelegt war das Symbol – das christliche Chi Rho. Beatrice Sleight war das Gegenstück zu Vivian, die in ihrem einfachen Rock und dem Kaschmirpullover wie ein Aschenputtel aussah und sich so unwohl fühlte, als sei sie soeben auf einem Kamel in den Saal geritten.
Beatrice Sleight bot Melrose mehr als nur ihre Hand zur Begrüßung. Sie rückte ihm so nah, daß nur noch ihr Cocktailglas ihre Körper voneinander trennte. Sie war Schriftstellerin, und ihre Spezialität war ein Genre, das sie selbst erfunden zu haben schien: Schlüsselromane, deren Hauptthema der britische Adel war. Zwei ihrer Bücher – Ein Graf am Galgen und Ende eines Earls – waren kometenhaft an die Spitze der Bestsellerlisten aufgestiegen. «Für das Privatleben des Adels interessiert sich doch jeder, stimmt’s?» sagte sie.
«Wenn Sie meinen», entgegnete Melrose lächelnd, bevor Seaingham ihn von Beatrice befreite und ihm einen jungen Mann vorstellte. Es war William MacQuade, der Schriftsteller, den Vivian bewunderte. MacQuade hatte kürzlich mehrere Preise für einen Roman gewonnen, den selbst Charles Seaingham gelobt hatte. Und das wollte einiges heißen. Melrose mochte ihn, sowohl wegen seines schlechtsitzenden Smokings als auch wegen seiner offenkundigen Intelligenz: Nach zehnminütigem Geplauder hatte Melrose immer noch keine Platitüden à la «Scheußliches Wetter draußen» von ihm gehört oder genialische Angebereien ertragen müssen.
Der große schweigsame Bursche, der am Fenster gelehnt hatte, als sie hereingekommen waren, entpuppte sich als der Maler
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