Inspector Jury bricht das Eis
überflüssiges Scharmützel. Die haben alle eine Schraube locker, hatte sie über die Verantwortlichen in Amerika gesagt. Verglichen mit dem Zweiten Weltkrieg zählte Vietnam nicht. In Jury aber sah sie trotz des Altersunterschiedes einen Verbündeten. Er hatte den Alten Krieg als Kind erlebt, sie selbst war damals eine junge Frau gewesen. Er fragte sie nie nach ihren Erlebnissen in Polen, und sie hatte ihm nur ein paar belanglose Familienfotos gezeigt, die nichts mit dem Krieg zu tun hatten. Was immer auch die Ursache für ihren Verfolgungswahn war, er lag schwer auf ihrer Seele und nährte sich von der Dunkelheit wie die Pflanze dort in der Zimmerecke, die selten Licht bekam. Und deshalb hielt Mrs. Wasserman die Vorhänge geschlossen und die Tür verriegelt und mit Ketten gesichert.
Es war jedoch ein gewaltiger Trost für sie, daß Jury ihr zu glauben schien. Jedesmal wenn sie ihren Jäger wieder gesehen hatte – und das kam sehr häufig vor –, hatte Jury sich den Mann beschreiben lassen. Die Beschreibung paßte allerdings auf jeden Dritten, der die Straße hinunterlief.
Nun erklärte sie dem unsichtbaren Besucher, daß der Inspektor viel zu bescheiden sei. Und daß sie stets eine Todesangst gehabt habe, ihre Wohnung zu verlassen, bevor er oben im zweiten Stock eingezogen war.
Das stimmte. Bis sie einmal in seiner Begleitung zur Camden Passage, zu den Märkten und zur U-Bahn gelaufen war, hatte sie sich höchstens einmal die Woche auf die Straße getraut, um ins nächstgelegene Geschäft zu huschen und das Notwendigste einzukaufen.
Und obgleich sie gewohnheitsmäßig durch einen Spalt im Vorhang nach Jury Ausschau hielt und immer wußte, ob er zu Hause war oder nicht, hatte Mrs. Wasserman stets größtes Taktgefühl bewiesen und seine Privatsphäre respektiert. Nicht ein einziges Mal hatte sie versucht, sich in seine Privatangelegenheiten einzumischen – im Gegensatz zu seiner Cousine und seinen Kollegen mit ihrem ewigen Was du brauchst, ist eine Frau, ein Mädchen, eine Katze, ein Hund oder sonstwas.
«… in gewisser Weise ist es auch deprimierend.» Sie sprach wieder über das Weihnachtsfest. «So viel Flitterkram, so viel Rauschgold.» Sie zuckte die Achseln. «Ist es wahr, daß zu Weihnachten mehr Leute Selbstmord begehen als sonst?»
Jury nickte. «Es ist wahr.»
Sie trank ihre Tasse leer. «Das ist traurig. Viel zu traurig, als daß man an Weihnachten wirklich glücklich sein könnte. Das muß doch schwer sein für euch Christen.»
Es war mehr eine Frage als eine Feststellung, und da sie befürchtete, taktlos gewesen zu sein, wandte sie sich errötend ab.
Jury lächelte. «Ich weiß ja nicht mal, ob ich einer bin. Ich war seit Urzeiten nicht mehr in der Kirche.»
«Wir könnten doch gehen», sagte sie unvermittelt.
«Was?»
Sie war schon aufgesprungen. «Kommen Sie. Nur für ein paar Minuten, das wird Ihnen nicht schaden. St. Stephens ist gleich um die Ecke.»
Jury traute seinen Ohren nicht. «Aber Mrs. Wasserman! Ich meine – dürfen Sie das denn?»
Flehend wandte sie sich mit ausgestreckten Armen an den leeren Stuhl. «Ob ich darf , fragt er allen Ernstes. Ob ich darf ! Wer sollte es mir denn verbieten – die Polizei vielleicht?» Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen, so gut gefiel ihr der Witz. Während sie ihren Hut mit einer Nadel feststeckte und sich dann von Jury in den Mantel helfen ließ, sagte sie: «Mr. Jury, nach allem, was wir beide durchgemacht haben, können wir uns solche Haarspaltereien doch sparen, oder?»
Das schrille Klingeln des Telefons riß Jury am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Als er zum Hörer griff, fiel sein Blick auf den Wecker – es war fast Mittag! Das kann doch nicht sein, dachte er. Das alte Ding mußte kurz vor Mitternacht stehengeblieben sein. Er packte und schüttelte ihn, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen, aber der Wecker tickte ungerührt vor sich hin, als habe er überhaupt nichts damit zu schaffen, daß sein Besitzer den Frühzug nach Newcastle verpaßt hatte.
«Verdammt», schimpfte dieser leise in den Hörer, direkt in das muschelförmige Ohr von Chief Superintendent Racer am anderen Ende der Leitung.
«Es ist schon schlimm genug, daß Sie bis Mittag schlafen, Jury», fauchte Racer, «aber daß Sie auch noch Ihren Vorgesetzten anschnauzen, ist eine Unverschämtheit!»
«Ich habe mit meinem Wecker gesprochen.»
Es folgte ein kurzes Schweigen, währenddessen Racer, wie Jury sehr wohl wußte, fieberhaft nach einer
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