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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Tagen eingeschneit.»
    Na prächtig, dachte Melrose.

11
    Natürlich war es eine alte Abtei, wie konnte es anders sein.
    «Spinney Abbey» verkündete das Bronzeschild an dem steinernen Torpfosten. Die Steinmassen, die sich in der Ferne auftürmten, als «Haus» zu bezeichnen, war, gelinde gesagt, eine Untertreibung. Plant stellte sich schon darauf ein, daß ihn am Ende der langen, nur wenig geräumten Auffahrt eine kalte, ungemütliche Zelle erwartete. Das Gebäude war riesengroß, abweisend, düster, mittelalterlich. Aus mächtigen Schornsteinen ragten hohe Abzugsrohre mit spitzen Kappen wie Speere in den Nachthimmel. Als Seaingham seinen Gästen auch noch erklärte, die Umgebung der Abtei sei ein beliebter Drehort für Gruselfilme, wurde Melroses Laune nicht besser.
    Sie kletterten aus dem Landrover und kämpften sich durch den Schneesturm zu einer Eingangstür, die aussah, als könnte allenfalls eine Schar Gallier oder Goten sie aufstemmen. Wunderbarerweise wurde sie jedoch von einem einzigen Butler geöffnet.
    «Marchbanks», sagte Seaingham, während man ihnen aus Mänteln, Schals und Stiefeln half, «sehen Sie zu, daß Lord Ardrys Diener versorgt wird, ja? Und sagen Sie der Köchin, daß wir in einer halben Stunde zu Abend essen.» Er lächelte. «Die Leute hier brauchen einen Drink zum Aufwärmen.»
    Was Melrose betraf, würde es mehr als nur eines Drinks bedürfen. Die Vorhalle war zwei Stockwerke hoch, ihre tiefen Fensternischen waren mit je zwei Oberlichtern versehen und unten durch Laden verschlossen. In der Mitte des Raums befand sich ein riesiger offener Kamin. Ein mächtiger, mit weißen Lichtern geschmückter Weihnachtsbaum ragte zu der gewölbten Decke empor. In früheren Zeiten mußten hier Banketts zu Ehren fürstlicher Besucher und deren Gefolgschaft stattgefunden haben. Heute diente dieser Saal nur noch als Durchgangszimmer, das eine Anzahl Statuen beherbergte und auf dem Weg zu anderen, zweifellos ebenso feudalen Räumlichkeiten passiert werden mußte.
    Marchbanks, der Butler, paßte perfekt hierher. Er hätte geradewegs aus einer der Wandnischen getreten sein können, in denen schmucklose Büsten und Statuen mit geistlich anmutenden Gewändern traurig die Köpfe hängen ließen.
    Während Ruthven Marchbanks hinterhertrottete, setzte Seaingham seinen kleinen Trupp in Bewegung und führte ihn zu einer weiteren Tür – einer großen Doppelschiebetür, deren blankgewienertes Holz durch den Rauch von Kerzen und Kamin mit den Jahren tief dunkel geworden war.
     
    Eigentlich waren nicht allzu viele Leute versammelt; dennoch machte der Raum einen fast überfüllten Eindruck. Vielleicht lag es an der Art, wie die Gäste im Zimmer verteilt waren – gleich den Statuen in der Vorhalle schienen sie allein zum Zweck einer ausgewogenen Komposition auf ihren Sitz- und Stehplätzen postiert worden zu sein. Die Stimmung war hier allerdings eher alkoholisiert als vergeistigt. Der Martinikrug war offenbar schon einige Male herumgereicht worden, und auch die Whiskyflaschen und der Sodasiphon waren nicht unberührt geblieben.
    Dieses Wohn- oder Empfangszimmer erinnerte nur noch vage an die Vorhalle. Auf einem Fries, der den Sims des prächtigen Kamins stützte, prangte das Wappen eines verblichenen Lords. Es gab hohe Fenster mit mehrfach unterteilten Scheiben und steinernen Fensterbänken. Doch abgesehen davon herrschte eine Atmosphäre behaglicher Eleganz: Samt und Brokat, pastellgrüne Wände, eine cremefarbene Decke mit Stuckgirlanden. Melrose liebte schöne Zimmerdecken; auf Ardry End gab es viele von Adam gestaltete Decken, deren Feinheiten Melrose besonders in jenen müßigen Stunden studierte, wenn Agatha zum Tee vorbeikam.
    Aus einem entfernten Gebäudeflügel drangen die schrägen Klänge des schlechtesten Klavierspiels, das Melrose je gehört hatte.
    Grace Seaingham, Charles’ Frau, erwies sich als perfekte Gastgeberin: Sie stellte Agatha und Vivian allen vor, ohne daß man etwas von ihrer diskreten Führung gemerkt hätte. Sie war eher zierlich und von einer kühlen Schönheit, die das weiße Seidenkleid und das platinblonde Haar noch unterstrichen. Als einzigen Schmuck trug sie einen Mosaikanhänger.
    Alle hatten sich feingemacht, die Damen waren in Abendgarderobe, die Herren im Smoking erschienen. Melrose fiel ein, daß Ruthven bestimmt auf der Stelle tot umfallen würde, wenn er den Earl of Caverness im Tweedanzug zum Dinner Platz nehmen sähe. Aber als er die anderen Gäste betrachtete, bereute er

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