Inspector Jury bricht das Eis
Alter.»
Sie schüttelte den Kopf. «Sie irren sich, Mr. Plant. Er schlägt seinen Eltern nach. Abgesehen von seiner Musik – immerhin nimmt er die wenigstens ernst …»
Gott sei’s geklagt, dachte Melrose.
«Er ist ziemlich leichtfertig.»
Melrose neigte zweifelnd den Kopf. Vielleicht irrte er sich wirklich. Aber eigentlich glaubte er das nicht. «Und wie äußert sich das?»
Sie bürstete ein wenig Zigarettenasche von ihrem Samtkleid. «Er spielt Pool.» Ihre silbrigen Augen nagelten Melrose in seinem Sessel fest.
«Du liebe Güte!» sagte er. Aber dann kam Agatha, und er stand schnell auf. Agatha ließ sich auf den freigewordenen Platz fallen, als habe sie vor, die nächsten Jahre dort sitzen zu bleiben.
«Na so was, Betsy! Wie ich sehe, stickst du auch!»
Auch? wunderte sich Melrose, der in ihrer linken Hand noch nie etwas anderes gesehen hatte als eine Tasse Tee oder ein Törtchen.
«Ihr Buch hat mir gefallen», sagte Melrose zu William MacQuade.
«Mein Buch?» Der junge Mann schien irritiert.
Melrose lächelte nachsichtig. «Sie erinnern sich doch bestimmt daran. Das, für das Sie den Booker-Preis bekommen haben.»
MacQuade errötete. Er war mit den Gedanken offenbar ganz woanders gewesen, und nach der Richtung seines Blicks zu schließen, hatten sie bei Grace Seaingham geweilt, als Melrose zu ihm getreten war. «Entschuldigung. Ich wollte nicht den Bescheidenen spielen.»
Den mußte er nach Melroses Einschätzung auch gar nicht erst spielen: er war offenbar die Bescheidenheit in Person. Aber vielleicht erkannte man gerade daran wahres Talent. Wenn diese Theorie stimmte, mußte es der Autorin von Ende eines Earls notgedrungen fehlen. «Charles Seaingham hat das Buch in den höchsten Tönen gelobt. Und in der Regel tut er eher das Gegenteil. Bitte verstehen Sie mich richtig; das soll nicht heißen, daß ich Seaingham für einen Mäkler und Beckmesser halte. Er ist bloß aufrichtig. Was zur Zeit an junger Literatur erscheint, reißt einen ja nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hin. Aber es ist doch ziemlich schwer, Seainghams Ansprüchen zu genügen. Ich glaube, seit Krieg und Frieden hat ihm kaum mehr etwas gefallen.» Melrose redete einfach drauflos, um MacQuade über seine Verlegenheit hinwegzuhelfen. Es mußte scheußlich sein, die Frau des Mannes zu lieben, der einen so förderte.
MacQuade grinste. «So alt ist er nun auch wieder nicht!»
«Das habe ich auch nicht damit sagen wollen.» Charles Seaingham ging zwar schon auf die Siebzig zu, aber seine asketische Lebensführung schien ihn verdammt gut in Form zu halten. Anders seine Frau, die den durchsichtigen Teint einer chronisch Kranken hatte und recht abgemagert aussah. Melrose meinte, sie erinnere ihn ein wenig an die Hauptfigur in Wilkie Collins’ Roman Die Frau in Weiß.
«Ja, das stimmt», sagte MacQuade und wurde wieder rot, als befürchtete er, der andere könnte seine Gedanken lesen. «Sie dürfte bei dieser Kälte nicht nach draußen gehen. Das müßte er verhindern.»
Melrose versuchte, ihn zu besänftigen: «Nun, wenn jemand religiös ist und Weihnachten vor der Tür steht …» Ihn persönlich allerdings hätten zu dieser Stunde keine zehn Pferde dazu gebracht, selbst die wenigen Schritte zur Kapelle zu eilen – nicht einmal, wenn er einen hermelingefütterten Mantel gehabt hätte. «Kennen Sie sie denn schon lange?»
«Ich … nein, das nicht. Aber ich glaube, ich kenne sie besser als ihr eigener Mann.» MacQuade räusperte sich und bedachte Melrose mit einem Blick, der endgültig alles verraten hätte, wäre es nicht schon klargewesen.
Melrose hatte sich zu den Bücherregalen zurückgezogen, blätterte in einem Band mit französischer Lyrik und beobachtete Frederick Parmenger und Beatrice Sleight. Bea hatte Vivian rücksichtslos verdrängt, sobald diese es geschafft hatte, Parmenger von seinem Buch abzulenken. Vivian rauschte nun an Melrose vorbei – offenkundig auf der Suche nach jemandem, der sie mehr interessierte als er.
«Die kann blaues Blut zur Wallung bringen, was, mein Süßer?» sagte sie im Vorbeigehen.
Es war schon imposant, wie Parmenger Beatrice abblitzen ließ. Nachdem sie Vivian, an der er interessierter gewesen zu sein schien, erfolgreich aus dem Feld ge schlagen hatte, drapierte sie ihren Leib über seinen Sessel und wucherte mit ihren Pfunden. Doch Parmenger machte sich nicht einmal die Mühe, von seinem Buch aufzublicken, als er sie mit ein paar Worten von der Sessellehne vertrieb.
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