Inspector Jury bricht das Eis
daß Sie das aus reiner Höflichkeit sagen. Wären wir befreundet, würde Ihr Urteil gewiß offener ausfallen.» In ihrem Schoß lag ein Stickrahmen. Sie arbeitete an einem komplizierten Muster. «Alle denken, ich hätte Tom zum Musikunterricht gezwungen. In Wirklichkeit besteht Tom darauf, nicht ich. Ich weiß nicht, was er sich da in den Kopf gesetzt hat. Aber solange es ihm Spaß macht, spiele ich da gern mit. Bitte verzeihen Sie mir den Kalauer.»
«Sowohl den Kalauer als auch das Klavier, Lady St. Leger.»
Den Blick auf ihre Stickarbeit gerichtet, sagte sie: «Aber die Oboe wohl nicht.»
«Ah, nein, ich fürchte, das wird mir schwerfallen – aber Ihr Neffe wird sicherlich noch ein Gebiet finden, auf dem er sein Talent beweisen kann.»
«Das hoffe ich sehr. In der Schule zeigt er leider wenig Neigung zum Lernen – aber die Geschichte des Altertums interessiert ihn aus irgendeinem Grund. Der Direktor von St. Jude’s …»
«St. Jude’s Grange? Er geht doch hoffentlich nicht auf diese Schule?» Melrose war schlichtweg entsetzt.
«Doch, wieso?» Sie sah ihn mit leuchtenden Augen an. «Sie kennen sie also?»
Er kannte St. Jude’s in der Tat, obgleich er eher zugegeben hätte, Verbindung zu einem Satansorden zu haben. Nicht daß in dieser Zuchtanstalt geistigen Mittelmaßes die Jungen (und inzwischen wohl auch Mädchen) verprügelt oder schlecht ernährt worden wären, es sei denn in intellektueller Hinsicht. Aber St. Jude’s war einer der größten Anachronismen auf den Britischen Inseln. Wer heute dort Schüler war, folgte einer Tradition, die auf den Ururururgroßvater zurückging – es war wie ein Familienfluch. Die Schule hatte hohe Mauern und Glockentürme, und Melrose hätte sich während seines kurzen Aufenthalts dort nicht gewundert, auch einen Burggraben vorzufinden. Es gab keine Wärter, keine Zuchtmeister und keine guten Lehrer, die diese Bezeichnung verdient hätten. Er war einmal dorthin eingeladen worden, um einen Vortrag über die französischen Romantiker zu halten, und die Handvoll bebrillter sommersprossiger Jungen, die erschienen war, um ihn in seiner schwarzen Robe reden zu hören, hatte sich auf den hinteren Bänken prächtig mit ihren Gummizwillen amüsiert. Das eigentlich Unglaubliche aber war, wie St. Jude’s es fertigbrachte, im Ruf einer ausgezeichneten Lehranstalt zu stehen, während doch jeder wußte, daß die Absolventen allenfalls klug genug waren, um das Geld in ihren Brieftaschen zu zählen. Das einzige, womit St. Jude’s sich brüsten konnte, waren ein erstklassiges Cricket-Team und ein Haufen spendierfreudiger Ehemaliger, die ihre Cricketbegeisterung noch nicht abgelegt hatten. Melrose hatte einmal tief durchgeatmet, als er der muffigen Atmosphäre der Schule mit ihren Zinnen, dem Efeu und den schwarzen Roben endlich entronnen war. Er hätte sich lieber von Poe einmauern lassen, als dort ein Trimester zu verbringen.
«Sie halten mich bestimmt für sehr altmodisch, Mr. Plant», sagte Lady St. Leger, die über junge Leute im allgemeinen und ihren Großneffen im besonderen gesprochen hatte.
«Ich bin selber ziemlich altmodisch», sagte Melrose und stellte den italienischen Likör weg, den Grace Seaingham ihm empfohlen hatte. Sie behauptete, er wirke wahre Wunder nach dem Essen, vor allem dank der Kaffeebohnen, die an seiner Oberfläche schwammen. Sambuca con mosca nannte sie das Getränk.
Agatha, die immer auf der Höhe der Zeit sein wollte, was Essen und Trinken betraf, war von diesem Sambuca recht angetan gewesen und hatte gefragt, was con mosca bedeutete.
«‹Mit Fliegen›», hatte Grace mit todernstem Gesicht gesagt, worauf Tante Agatha angeekelt ihr Glas beiseite gestellt hatte.
Melrose mochte klebrige Liköre nicht und rauchte eine Zigarre, um den Geschmack loszuwerden. Alle hier schienen ihren Lieblingslikör zu haben: Beatrice Sleight sprach dem mit der grausigsten Farbe zu – einem preiselbeerroten Zeug; Grace Seaingham trank ihren kristallklaren Sambuca, und Agatha blieb letztlich doch lieber bei Crème de violette.
Lady St. Leger bevorzugte vernünftigerweise teuren Courvoisier. Sie hielt die ihr von Melrose angebotene Zigarette vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger wie jemand, der selten raucht. «Vielleicht nehme ich das alles auch zu genau, weil Tom nicht mein eigener Sohn ist. Sein Vater, der zehnte Marquis, und seine Mutter starben, als er zehn war, und da ich ihre engste Freundin war … Besser gesagt, wir waren ihre engsten Freunde, aber
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