Inspector Jury bricht das Eis
Beatrice war die Bemerkung nicht entgangen. «Da wäre ich nicht so sicher, Schätzchen», sagte sie spitz. Ihre Augen funkelten boshaft im Kerzenlicht. Melrose fand allmählich, daß Susan Assington recht hatte: Ein Mord wäre vielleicht doch keine so schlechte Idee.
Zuerst das Klavier , und jetzt auch noch die Oboe. Die meisten, die sich schließlich mit ihren Drinks und Zigarren in den Salon geflüchtet hatten, waren diesem musikalischen Genuß nicht gewachsen gewesen; außer Lady St. Leger hatte nur Grace Seaingham Tommys Darbietung gelauscht – ein sicherer Beweis für ihre Engelsgeduld.
Fasziniert von ihrer bleichen, madonnenhaften Schönheit nahm Melrose seinen Brandy und setzte sich neben sie. «Danke, daß Sie mir vorhin beigesprungen sind», sagte er.
«Ich bin sicher, Sie wären auch allein mit ihr fertig geworden.» Grace Seaingham warf einen Blick auf Beatrice Sleight, die ihr Möglichstes tat, Parmenger auf sich aufmerksam zu machen. «Wir kennen Bea seit Jahren. Sie kann ziemlich unausstehlich sein.» Sie sagte es in einem so mitfühlenden Ton, daß man hätte meinen können, noch der abscheulichste Charakter sei liebenswert, wenn man es nur versuchte. «Kennen Sie eigentlich Freddie Parmenger? Ich meine, haben Sie seine Arbeiten gesehen?»
«Ich habe von ihm gehört. Er stellt doch zur Zeit in London aus, in der Akademie, nicht wahr? Ich muß gestehen, daß mir jeglicher Zugang zur modernen Kunst fehlt.»
« Das würde Freddie bestimmt nicht gerne hören.» Sie lachte glockenhell. «Er hält sich auch nicht für modern; er hält sich für unsterblich.»
«Ist er so arrogant?»
«Arroganz hat doch nichts mit Kunst zu tun, oder? Ich meine bei Künstlern von Freddies oder Bill MacQuades Kaliber. Obwohl man ihm kaum vorwerfen könnte, er sei arrogant.» Sie deutete mit dem Kopf auf MacQuade, der ihr zulächelte. Dann schweifte ihr Blick hinüber zu Parmenger, der lesend auf einem Stuhl saß. «Schauen Sie, wie er dasitzt: ein Bollwerk gegen jede Geselligkeit.»
Da es Bea Sleight war, deren Gesellschaft Parmenger entfliehen wollte, konnte Melrose leicht über seine schlechten Manieren hinwegsehen. Ihr geheucheltes Interesse an seinem Buch war schnell verflogen, und sie schwebte wie eine dunkle Wolke auf Charles Seaingham zu.
Ihr Blick und die Vertraulichkeit, mit der sie ihren Arm unter seinen schob, ließen deutlich erkennen, warum sie überhaupt eingeladen worden war. Melrose bemerkte auch, daß Grace die beiden mit einem Blick bedachte, in dem kein Zorn, sondern bloß tiefe Trauer lag.
Er konnte diesen Ausdruck in ihren Augen nicht ertragen und kam hastig auf ihre Bemerkung über die Kunst zurück. «Arroganz hat nichts damit zu tun? Da mögen Sie recht haben. Sie räumen mithin ein, daß für Künstler andere moralische Maßstäbe gelten als für normale Sterbliche?» Sogleich bereute er seinen Fauxpas.
Sie lächelte ihn an: «Ich glaube, es ist völlig bedeutungslos, was ich ‹einräume› oder nicht ‹einräume›. Vermutlich würde auch meine Moral keiner näheren Untersuchung standhalten.»
Auf diese überraschende Feststellung fiel Melrose keine passende Antwort ein.
Sie stellte ihren Sambuca ab und erhob sich. «Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen, Mr. Plant. Ich möchte gerne mein Cape holen und zur Kapelle gehen.»
«Ihr Cape? Heißt das, Sie wollen jetzt noch nach draußen gehen? Gibt es hier keine Hauskapelle –?»
Seine Besorgnis amüsierte sie. «Ich gehe in die Marienkapelle. Keine Angst; sie liegt direkt gegenüber dem Ostflügel, und der Weg ist überdacht. Der Flügel steht mehr oder weniger leer, bis auf das kleine Arbeitszimmer meines Mannes und die Waffenkammer. Und an seinem hinteren Ende habe ich ein Sonnenstudio einrichten lassen. Morgen werde ich Ihnen das alles zeigen.»
Sie ging hinaus, und während er ihr nachsah, stellte er fest, daß er seltsam verwirrt war. Er fragte sich tatsächlich, wie es wäre, mit ihr verheiratet zu sein. Würde dieses Übermaß an Tugend – deren Echtheit Melrose nicht bezweifelte – einen Jahr um Jahr umspülen wie das Meer die Küste, bis die Umrisse der eigenen Persönlichkeit ausgewaschen und ausgehöhlt waren?
«Ich weiß, was Sie denken, Mr. Plant, aber ich habe wirklich keine tauben Ohren.» Lady St. Leger warf ihm einen schelmischen Blick zu.
«Der Marquis braucht wahrscheinlich nur ein wenig Übung», sagte Melrose, ohne eine Miene zu verziehen.
«Nur ein wenig? Verzeihen Sie, wenn ich vermute,
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