Inspector Jury bricht das Eis
haben.
«Ich hoffe, Sie finden, was Sie suchen. Leben Sie wohl, Mr. Jury.»
Sie wandte sich wieder dem Feuer zu, das nun langsam herunterbrannte.
14
«Ich werde mich heute etwas früher zur Ruhe begeben», sagte Lady Stubbings. Normalerweise hätte Melrose über so etwas gerade noch hinweglesen können – in Krimis begab man sich eben gerne früh zur Ruhe –, aber in diesem Fall empfand er den Satz als absolut unerträglich und wünschte, sämtliche handelnden Personen würden schleunigst ihre Betten aufsuchen.
Bis jetzt hatte er ein halbes Dutzend Leichen gezählt, die entweder im Studierzimmer, auf der Terrasse oder im Treibhaus entdeckt worden waren. Melrose gähnte und legte Die Morde auf Stubbings beiseite. Er hatte schon nach ein paar Seiten gewußt, wer die Mörderin war, und war nur allzu froh, daß sie sich nun endlich zur Ruhe begab … Anstatt sich jeden Abend wieder früh in ihre Zimmer zurückzuziehen, sollten alle Romangestalten es ihm gleichtun und lieber gleich ganz im Bett bleiben. Dann bliebe allen eine Menge Mühe und Ärger erspart: die Opfer müßten sich nicht umbringen lassen, der Mörder müßte nicht morden, der Leser müßte das Buch nicht lesen, und vor allem müßte der Autor gar nicht erst mit dem Schreiben anfangen. Daß Melrose im allgemeinen trotzdem gern in Krimis schmökerte, ging auf seine Bekanntschaft mit Polly Praed zurück. Er hatte jedes ihrer Bücher zweimal gelesen, um es in seinen Briefen einer kritischen Würdigung unterziehen zu können. Seine Kritik war jedoch nicht mit ungeteilter Begeisterung aufgenommen worden, wie Pollys letzter Brief an Mr. M. Plant (Lord Ardry? Euer Gnaden??) bezeugte. Also wirklich!
Melrose klopfte die Kopfkissen zurecht, um sich eine bequemere Leseposition zu verschaffen. Dann nahm er Die Fußspur an der Decke von dem Bücherstapel auf seinem Nachttisch und las den Namen der Autorin – Wanda Wellings Switt. Grund genug, das Buch ohne Umschweife auf den Stapel abgelehnter Romane zu legen. Es interessierte ihn nicht die Bohne, von wem der blutige Fußabdruck an der Decke stammte.
Die dritte Taube , von Elizabeth Onions. Der Schutzumschlag zeigte einen Schwarm Tauben, die auf einen dunklen, wolkenverhangenen Himmel im Bildhintergrund zuflogen. Eine Taube, die zu blöd gewesen war, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen, stürzte wie ein Stein auf ein Gebüsch im Vordergrund herunter, aus dem finster ein Gewehrlauf lugte. Warum zum Teufel schrieb jemand über den Mord an Tauben, wenn ihm potentiell vier Milliarden Menschen als Opfer zur Verfügung standen?
Es wurde langsam Zeit, daß er aufstand. Die Migräne, die er am Morgen vorgeschützt hatte, konnte ihn ja nicht auf ewig bei den anderen Gästen entschuldigen – und Agatha nahm auf sein Ruhebedürfnis ohnehin keine Rücksicht. Mit schöner Regelmäßigkeit tauchte ihr grauhaariger Kopf in seiner Tür auf, um immer neue Vermutungen über seine Krankheit anzustellen: Die tödlichen Krankheiten waren inzwischen abgehakt, denn Ruthven hatte sich standhaft geweigert, einen Priester zu rufen; akute Erkrankungen fielen ihr offenbar keine mehr ein, und so begnügte sie sich nun mit einer Aufzählung chronischer Leiden.
Melrose stand auf und trat an das hohe schmale Fenster. Vielleicht hatten die Götter ja das kleine Wunder eines Wetterumschwungs vollbracht, und er konnte seine Taschen in den alten Flying Spur werfen und …
Schnee.
Schnee, Schnee und noch mal Schnee. Lady Assington hatte erklärt, dies sei «endlich mal ein echtes Abenteuer», als wären sie gezwungen, sich in arktischem Klima von Lebertran zu ernähren und Stöckchen aneinanderzureiben, um Feuer zu machen, während in Wirklichkeit prasselnde Kaminfeuer, Zigarren, Grand Marnier und Sambuca für ihr leibliches Wohl bereitstanden.
Ruthven klopfte, trat ein und fragte, ob Seine Lordschaft zum Nachmittagstee erscheinen würde.
Melrose studierte die Decke, fand sie kalt, klösterlich und bar jeder Fuß- oder Blutspur, und beinahe wäre er wie die besagte dritte Taube aus dem Bett gestürzt.
Zum Nachmittagstee wurde eine Vielfalt von Speisen gereicht, an denen jeder außer Agatha sich auf Tage hinaus hätte satt essen können: Räucherlachs, Rebhuhnpastete mit Trüffeln und natürlich eine Kuchenplatte, die Agatha sofort nach Sahnetörtchen absuchte.
Da die interessanteren Gäste wie Parmenger und MacQuade anscheinend Schweigegelübde abgelegt hatten, dominierten wieder Beatrice Sleight und Agatha das
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