Inspector Jury bricht das Eis
hatte, möglicherweise die genauen Fakten ableiten. «Jedenfalls nahm er sich das Leben, und die Mutter starb kurz danach. Es sieht so aus, als wäre der Skandal zuviel für sie gewesen. Sie muß demnach ein ziemlich empfindsamer Mensch gewesen sein. Wenn ich da an meinen eigenen Mann denke – aber lassen wir das. Helen kam auf ein Internat und fand es dort gräßlich. Es muß ein schwerer Schlag für sie gewesen sein, erst die Eltern zu verlieren und dann einfach irgendwohin abgeschoben zu werden. Sie hat einmal gesagt: ‹Wenn die anderen herausbekommen, daß einer allein ist, dann werden sie todsicher alles daransetzen, ihn noch einsamer zu machen.› So, wie sie über die Schule redete, könnte man meinen, all das sei ein böser Alptraum gewesen. Die anderen Mädchen waren kaltherzig, die Flure ein einziger Irrgarten. Und als sie dann sechzehn oder siebzehn war, hat sie der Onkel, dem sie das alles zu verdanken hatte, plötzlich vom Internat genommen.»
«Und warum?»
«Ich weiß es nicht.»
Jury dachte einen Moment nach. «Sie haben gesagt, daß Helen eine Menge über Sie wußte. War sie denn so neugierig?»
Isobel Dunsany schien ein wenig verwirrt, als hätte sie über diesen Gesichtspunkt noch gar nicht nachgedacht. «Neugierig war sie bestimmt nicht. Eher andersherum: Sie hat meine Geschwätzigkeit immer mit viel Geduld ertragen. Aber das haben Sie ja auch.» Sie schnippte lässig ihre Zigarette in den Kamin.
Hinter ihnen entbrannte zwischen Bradshaw und Gibbs ein kleiner Streit um die Sherryflasche.
«Wäre es möglich, daß Helen Minton Ihretwegen hergekommen ist?»
Sie sah ihn nachdenklich aus ihren kühlen blauen Augen an. «Wenn ich es mir so recht überlege – wäre das schon möglich. Damals war ich einfach froh, daß jemand zuhörte, wenn ich meine langweiligen Geschichten erzählte – über die alten Zeiten, meine Familie und so weiter. Sie schien sich sehr für die Dienerschaft zu interessieren, obwohl mir das zu dem Zeitpunkt nicht weiter aufgefallen ist. Ich hatte ein Dienstmädchen, Danny. Richtig hieß sie Danielle. Ihre Mutter muß entweder Französin oder ziemlich dumm gewesen sein, ihr so einen ausgefallenen Namen zu geben.»
«Wie kam das Mädchen zu Ihnen?»
«Vor ihrer Ehe hatte sie jahrelang als Bedienstete gearbeitet. Ihre Referenzen waren ausgezeichnet, und ein liebes Mädchen war sie auch. Ihr Mann war durchgebrannt, und sie hatte ein Kind zu ernähren. Ich vermute, sie saß in der Patsche, weil er ihr Erspartes hatte mitgehen lassen. Deswegen mußte sie sich wieder nach einer Anstellung umsehen.»
«Wann war das?»
Sie lachte leise und ein wenig verlegen. «Ich habe ein schlechtes Zeitgefühl. Vor zwölf Jahren ungefähr, es kann auch länger her sein.»
«Und was ist später aus Danny geworden?»
«Ich habe sie aus den Augen verloren. Tut mir leid.» Sie preßte die Finger gegen ihre Stirn, sah dann plötzlich auf und sagte, als sei ihr plötzlich eine Erleuchtung gekommen: «Lyte. Natürlich!»
«L-y-t-e?»
«Ja, genau. Danny Lyte. Jetzt fällt’s mir wieder ein. Es war der Name einer alten Familie aus Washington. Seltsam, aber für sie hat Helen sich besonders interessiert.»
«Erinnern Sie sich an das Kind?»
Aber der Sherry und das behagliche Feuer schienen Miss Dunsanys Erinnerungsvermögen eingelullt zu haben. «Danny wohnte in Washington. Den kleinen Jungen habe ich nur ein einziges Mal gesehen. Wie hieß er doch gleich?»
Jury wartete, aber Miss Dunsany schüttelte nur den Kopf.
«Robin?»
Er hatte ins Schwarze getroffen. « Robin ! Sie haben recht! Er wurde nach seinem Vater benannt. Jetzt sehe ich ihn auch wieder vor mir.» Sie beschrieb den Jungen: braunes Haar, braune Augen, ziellos schweifender Blick. «Es war traurig. Der Junge war ein wenig … zurückgeblieben. Eine traurige Geschichte.»
«Und für den Jungen hat Helen Minton sich auch interessiert?»
Wieder ein Treffer für Scotland Yard. «Ja, stimmt. Woher wissen Sie das bloß alles?»
Jury lächelte. «Ich hab einfach geraten.»
Mr. Bradshaw und Miss Gibbs hatten sich so intensiv mit der Sherryflasche beschäftigt, daß sie nun eine Art dissonanten Weihnachtskanon anstimmten, jeder mit einem anderen Lied.
Jury bedankte sich bei Isobel Dunsany und erhob sich. Zum Abschluß versprach er ihr, daß ein Aufsichtsbeamter demnächst das Hotel inspizieren werde. Die Wiedereröffnung des Tanzsaals sei damit zwar noch nicht gesichert, aber mit den Dosensuppen werde es wahrscheinlich ein Ende
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