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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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kaum noch etwas zu sehen, so daß zwischen dem augenblicklichen Standort der Männer und dem Haupteingang eine unberührte Schneefläche lag, die nur von der halbherzig geräumten und schon wieder zugeschneiten Auffahrt zerteilt wurde.
    Die Luft war frisch, der Wind hatte sich gelegt. Melrose fühlte sich plötzlich um Jahrhunderte zurückversetzt und meinte, die Zisterziensermönche zur Morgenandacht schreiten zu sehen. Die Vorstellung ließ ihn frösteln.
    Dann sagte Tommy Whittaker etwas, das ihn jäh in die Gegenwart zurückholte. «Auf Skiern ?» rief Melrose. «Du erwartest doch nicht etwa, daß ich mir Skier an die Füße schnalle und mit dir zum ‹Jerusalem Inn› laufe?»
    «Ach, kommen Sie schon. Das wird ein Heidenspaß. Wenn Sie wollen, können Sie auch Schneeschuhe nehmen. Die haben hier ein ganzes Arsenal von Sportgeräten. In der Waffenkammer, gleich neben dem Solarium. Mr. Seaingham ist bestens ausgerüstet, also …»
    «Moment mal! Ich hab noch nie im Leben auf Skiern gestanden und erst recht nicht auf Schneeschuhen.»
    «Ich auch nicht, bevor ich hier festsaß. Sieht ja aus, als müßten wir den Rest unseres Lebens hier verbringen.»
    «Beschrei’s nicht.» Melrose sandte ein stummes Stoßgebet gen Himmel.
    «Skilaufen ist wirklich ganz einfach», sagte Tommy beruhigend, und um Melroses Vorbehalte gegen das Unternehmen vollständig zu zerstreuen, fuhr er fort: «Sie haben doch gesagt, Sie hätten Auf Skiern gelesen. Das Buch ist praktisch eine Anleitung zum Skilaufen. Ich hab daraus gelernt, wie man sich auf den Dingern bewegt. MacQuade ist Experte für Skilanglauf. Und das ist die einzige Möglichkeit, von hier wegzukommen.» Tommy wies auf die endlose Schneefläche vor ihnen, als wollte er Melrose plastisch vor Augen führen, daß man hier nicht mit Hausschuhen durchkam.
    «Das ist mir durchaus klar. Aber wenn du dich unbedingt auf dieses Wagnis einlassen willst, warum fragst du dann nicht MacQuade, ob er dich begleitet?»
    «Weil man mit Erwachsenen nicht reden kann.»
    Was, fragte sich Melrose, bin denn dann ich? «Wieso willst du eigentlich partout im Schnee rumschlittern?»
    «Heute abend findet ein Match statt. Im ‹Jerusalem Inn›. Ich spiele dort schon seit einiger Zeit Snooker; Meares Hall liegt nicht weit von dort, am anderen Ende von Spinneyton. Wußten Sie das nicht? Tante Betsy und die Seainghams sind schon seit Ewigkeiten miteinander befreundet. Sonst ist hier ja auch kaum jemand, oder?»
    «Der Schlächter von Spinneyton vielleicht.»
    «Nie von gehört.» Angst war ihm offenbar auch nicht einzuflößen. Tommy Whittaker interessierte sich für nichts als sein Snooker-Match. «Jedenfalls find ich’s super im ‹Jerusalem Inn›. Natürlich mußte ich mir was einfallen lassen, damit niemand merkt, daß ich dorthin gehe, und die Leute da wissen selbstverständlich nicht, wer ich bin.»
    «Das ist mir auch nicht ganz klar», sagte Melrose und wandte sich ab, um wieder ins Haus zu gehen.
    «Ich kann Ihnen in fünf Minuten beibringen, wie man Ski läuft. Wir müssen nur bis nach dem Abendessen warten. Dann ist es stockdunkel, und keiner wird sehen, wie wir verschwinden.»
    «Man wird mich beim Brandy vermissen», sagte Melrose, obwohl er genau wußte, daß zu so später Stunde und mit dem Drink in der Hand sich keiner mehr um den Verbleib des anderen scheren würde.
    «Erfinden Sie eine Ausrede. Sagen Sie, Sie seien krank. Genau wie heute morgen.»
    Sie hatten inzwischen die Tür zur Kapelle erreicht. «Ich bin kein Lügner.»
    «Natürlich sind Sie einer. Sie haben anscheinend vergessen, wie es ist, jung zu sein und nicht tun zu dürfen, was einem gefällt. Alles ist verboten – Zigaretten, Drinks, Snooker. Zu Hause darf ich auch nicht spielen, obwohl wir ein riesiges Spielzimmer haben. Als Tante Betsy nämlich gesehen hat, wieviel Spaß es mir macht, hat sie Angst gekriegt, daß … also, ehrlich gesagt, glaube ich, sie hat Angst, daß ich so werde wie mein Vater. Sagen würde sie das allerdings nie. Es ist im Grunde ihr einziger schwacher Punkt. Sie hat’s tatsächlich geschafft, Parkin – das ist unser Butler – so weit zu bringen, daß er ständig neue Gründe dafür erfindet, warum er den Raum verschlossen halten muß.»
    «Das klingt wirklich ein bißchen übertrieben. Hübsch ist es hier.» Sie standen im Mittelschiff. Vor der blaßblau und gold bemalten Figur der Jungfrau Maria brannten Kerzen.
    Aber Tommy Whittaker hatte anderes im Kopf als Gott und die Heiligen.

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