Inspector Jury bricht das Eis
Gespräch.
Nachdem Agatha sich tags zuvor erschöpfend über die Titel der Ardry-Plants ausgelassen hatte, ging sie heute zu deren Besitztümern über. Da sie kein eigenes Vermögen besaß, gab sie um so mehr mit Melroses Reichtum an: «… und auf Ardry End haben wir eine der besten Lalique-Sammlungen. Nächsten Monat gehen wir zu der Auktion bei Christie’s …»
Von dieser Auktion wußte Melrose noch gar nichts, und er hatte auch nicht vor, hinzugehen. Irgendeine beiläufig gestellte Frage erwiderte Agatha mit einem Lachen, das eher zu einem Rollkutscher als zu einer Lady paßte.
«Mein verstorbener Mann, Honorable Robert Ardry …» plapperte Agatha weiter und garnierte ihr Thema mit einer erneuten Aufzählung von Adelstiteln. Unterdessen floh Melrose aus dem Speisesaal in die Halle, hörte aber noch, wie sie auf eine Frage von Beatrice Sleight antwortete: «Ich? O nein, meine Liebe, keinen Penny.» Sie lachte. «Ich hab nur noch meinen Schmuck und, äh – ma devise .»
Da der Schmuck aus dem Besitz seiner Mutter stammte, blieb ihr lediglich ihr Anteil am Familienwappen. Aber den würde sie mit Zähnen und Klauen verteidigen.
Melrose schlenderte in den Salon, wo er Tommy Whittaker vor dem Feuer sitzen sah. «Verbrenn dir nicht die Finger», sagte er. «Sonst ist es aus mit dem Oboespielen.»
Tommy sah auf und lächelte. Sein Gesicht war von makelloser Schönheit, aber ihm selbst schien das kaum bewußt zu sein. Den Barockspiegel über dem Kamin ignorierte er vollständig. «Ich spiele erbärmlich, nicht wahr? Ich müßte mehr üben.»
«Aber bitte nicht jetzt.»
Tommys düstere Miene hellte sich auf; er begann zu lachen. «Tut mir leid, daß Sie meine Katzenmusik ertragen mußten.»
«Schon gut.»
«Interessieren Sie sich für Bücher?»
«Manchmal sogar für das, was drinsteht.» Melrose zündete sich eine Zigarre an.
«Mir ist die Lust am Lesen vergangen.» Er sah sich vorsichtig um. «All diese Schreiberlinge hier …»
«Aber, aber! Du weißt ja gar nicht, was dir entgeht! Ich denke da an so herrliche Bücher wie Die dritte Taube oder all die übrigen Werke von Elizabeth Onions.» Tom sah ihn verwirrt an, und Melrose fuhr fort: «Nur eine Krimiautorin. Keine Sorge, die Onions wird nicht auch noch hier auftauchen. Wahrscheinlich liegen Krimiautoren unter Mr. Seainghams Niveau.»
Tommy stieß einen Seufzer aus. «Wahrscheinlich wäre ein Mord wirklich keine so schlechte Idee. Ich würde mich gerne als Opfer anbieten.» Er stützte sein Kinn in die Hände und sah wieder so aus, als wollte er sich jeden Augenblick in die Flammen stürzen.
«Deine Opferbereitschaft ist edel, aber unnötig. Trotzdem, ich verstehe, was du meinst.»
«Ich bin froh, daß wenigstens einer mich versteht.»
Melrose wußte nicht genau, ob er wirklich den Seelentröster spielen wollte. So etwas konnte zu allerlei Komplikationen führen.
Tommy stand auf. «Machen wir doch einen kleinen Spaziergang. Haben Sie Lust?»
«Einen Spaziergang? Wohin?»
Tommy zuckte ungeduldig die Achseln. «Einfach raus. Wir könnten in den Ruinen rumlaufen.»
«Na prächtig. Hast du nicht bemerkt, daß der Schnee knietief liegt?»
«Wir könnten auch durch den Kreuzgang laufen und uns dann in die Kapelle setzen.»
Kreuzgang, Kapelle – das waren ja schöne Aussichten. Melrose hatte nichts weiter vorgehabt, als zurück auf sein Zimmer zu gehen und sich mit der Dritten Taube krank ins Bett zu legen.
«Ich wollte mit Ihnen über heute abend sprechen. Unter vier Augen.»
«Heute abend? Steht heute abend etwas Besonderes an?»
«Ja.» Tommy Whittaker war bereits unterwegs, um ihre Mäntel zu holen.
Mit jedem Schritt die lange Galerie hinunter, an deren hinterem Ende Charles Seainghams Arbeitszimmer lag, spürte man, wie die Kälte einem mehr und mehr in die Glieder drang. Die Galerie lag im Ostflügel des Hauptgebäudes, dessen Räume in vergangenen Tagen dem Abt als Unterkunft gedient hatten. Das vordere Ende der Galerie war in einen Wintergarten umgebaut worden, in dem es im Sommer ganz angenehm sein mochte, der aber im Winter nichts als ein ungemütlicher Glaskasten mit einer trostlosen Aussicht war. Melrose glaubte schon zu fühlen, wie ihm der Schnee in die Schuhe drang. Die Marienkapelle, in der Grace Seaingham abends zu beten pflegte, stand am Ende eines überdachten Wegs zu ihrer Rechten. Linker Hand lagen die Klosterruinen. Der Kreuzgang beziehungsweise dessen Überreste war immerhin noch gedeckt. Von der Basilika aber war
Weitere Kostenlose Bücher