Inspector Jury bricht das Eis
nicht mal eine Kanone gehört.»
«Sie waren aber noch nicht zu Bett gegangen», sagte Jury mit einem Blick auf Parmengers Anzug.
«Natürlich nicht. Ich mußte ja angezogen bleiben, damit ich mich nicht erkältete, während ich Bea Sleight auflauerte.» Er betrachtete Jury mit dem gleichen ungeduldigen Blick, mit dem er sein Bild begutachtet hatte.
«Ist es denkbar, daß jemand hier im Haus auch Helen Minton den Tod gewünscht haben könnte?»
«Hier im Haus?» Er lachte verächtlich. «Großer Gott, nein. Keiner von denen kannte sie.»
«Könnte vielleicht sonst jemand in Frage kommen?»
Parmenger schüttelte nachdenklich den Kopf. «Helen war zu anständig; sie hatte mit Sicherheit keine Feinde.»
«Mit einer Ausnahme», sagte Jury und erhob sich. In der Ferne hörte er das gedämpfte Geräusch eines Automotors.
18
Detective Sergeant Roy Cullen war in Sunderland geboren und aufgewachsen. Darum hatte er grundsätzlich nichts gegen Gewalt, wenn er sie auch nicht unbedingt begrüßte. Bei den zahlreichen handgreiflichen Auseinandersetzungen im Fußballstadion von Newcastle fühlte er sich jedenfalls durchaus in seinem Element. Aber mit einem Mordfall, in den Angehörige der Oberschicht verwickelt waren, gab er sich nur äußerst widerwillig ab. In Cullens Augen konnte man die in Spinney Abbey Versammelten größtenteils als Arbeitslose (oder, nach anderen Maßstäben, als Asoziale) bezeichnen, die auf eine Art zu Geld gekommen waren, die ihn mehr oder weniger an Falschmünzerei erinnerte. Daß jemand mit Bücherschreiben Geld verdiente (und zwar nicht zu knapp), war eine Sache, die er nicht ganz mit seinem eigenen undankbaren und schlechtbezahlten Job in Einklang bringen konnte.
Zu diesem Unbehagen gesellte sich nun auch noch der verdammte Schnee, der ihm in die Schuhe gedrungen war; die Tote, die er sich gerade angeschaut hatte; das Fußballspiel, das am Samstag wahrscheinlich wegen des schlechten Wetters ausfallen würde; und nicht zuletzt war da der Mord in Old Hall aufzuklären. Es war also durchaus verständlich, daß es mit Sergeant Cullens Laune nicht gerade zum besten stand. Er war ohnehin selten gut gelaunt, und der Butler, der ihm hochnäsig und mit spitzen Fingern Hut und Mantel abgenommen hatte, als gehörten sie erst einmal gründlich entlaust, hatte seine Stimmung bestimmt nicht gebessert.
Was die Hausgäste betraf, die im Salon versammelt waren, so brachte er ihnen in etwa die gleichen freundlichen Gefühle entgegen wie den Fußballrowdies in der Fankurve des Stadions von Newcastle. Charles Seaingham verdiente mit seiner Schreiberei wahrscheinlich in einer einzigen Woche mehr als er selbst in einem ganzen Jahr; der Doktor – sicherlich mit Praxis in der feinen Londoner Harley Street – trug einen seidenen Morgenmantel; der jüngere Mann, der so interessiert dreinschaute, sah aus wie ein Landadeliger und Rennstallbesitzer; der Intellektuelle (jeder, der eine Hornbrille trug, wurde so von ihm klassifiziert) schrieb vermutlich zugkräftige Stücke mit viel Sex oder ging sonst einer unnützen, aber gut bezahlten Beschäftigung nach. Ein Sechzehn- oder Siebzehnjähriger war ebenfalls mit von der Partie. Der sah ganz erträglich aus, war aber eindeutig nicht der Typ des Fußballfans und bestimmt ein verzogener Schnösel. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, war da noch der Kerl von Scotland Yard. Nicht, daß Cullen sein Revier verteidigen wollte – es ging ihm einfach zutiefst gegen den Strich, daß Scotland Yard vor ihm am Tatort eingetroffen war. Diese vornehmen Pinkel schienen zu denken, daß für sie das Feinste gerade gut genug war: Gemüse kaufen bei Fortnum’s, bei Todesfällen Scotland Yard.
All das ging Roy Cullen durch den Kopf, während er einen nach dem anderen musterte. Nach einem verlegenen Lächeln, das niemand im Raum erwiderte, sagte er: «Und das ist Constable Trimm.»
Cullen schätzte Trimm. Er schätzte ihn wegen seiner kleinen Statur und seines offenen, arglosen Gesichtsausdrucks. Doch dieser Eindruck kindlicher Harmlosigkeit war trügerisch und wurde von Cullen gern bei Verhören ausgenutzt, um den Verdächtigen in Sicherheit zu wiegen. Denn Trimm konnte wesentlich brutaler werden als Cullen, wenn es Ärger mit dem «Gelump» gab, wie sie die Schlägerbanden von Sunderland und Newcastle nannten. Er griff dann zu Methoden, die nicht immer ganz den Dienstvorschriften entsprachen, aber dafür blitzschnell das gewünschte Resultat erbrachten. Bei den Leuten hier in der
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