Inspector Jury bricht das Eis
Mal gesehen haben.»
Melrose stieß einen Seufzer aus. Miss Rivington , Allmächtiger! Und vermutlich würde sie ihn Superintendent nennen …
«Superintendent Jury», sagte sie mit leiser, gepreßter Stimme, während sie verlegen in ihrem Haar herumnestelte. «Es ist Jahre her. Na ja, genaugenommen ein Jahr. Wenn man das überhaupt mitzählen kann … ich meine, es waren ja höchstens ein paar Minuten …»
Melrose kippte seinen Brandy hinunter. Die beiden würden sich vermutlich noch als Greise so aufführen. Manchmal kamen sie ihm vor wie eine Gleichung mit zwei Unbekannten, die beim besten Willen nicht zu lösen ist. Welches Klischee würden sie wohl als nächstes abhaken? Ach ja.
«… darf ich überhaupt noch Miss zu Ihnen sagen …?»
Die hilfreiche Agatha nahm Vivian die Antwort ab: «Ja, Sie dürfen. Und ob Sie das dürfen. Noch ist sie nicht mit diesem gräßlichen Italiener verheiratet!»
Melrose befreite Jury aus Agathas Klauen und machte ihn mit Frederick Parmenger bekannt, der, allein mit seinem Whisky-Soda, sich mit dem Rücken gegen ein Bücherregal lehnte und düster vor sich hin starrte.
«Könnte ich mich kurz mit Ihnen unterhalten, Mr. Parmenger?» fragte Jury.
«Mit mir? Wieso? Sehe ich denn heute besonders mordlüstern aus? Zugegeben, ich konnte das Weib nicht ausstehen, aber …»
«Es geht nicht um Miss Sleight.»
Parmenger war sichtlich verblüfft. «Nicht? Ja, was zum Teufel wollen Sie denn dann von mir?»
Jury empfand eine heftige Abneigung dagegen, Parmenger über Helens Tod aufzuklären. Das lag zum Teil daran, daß er den Tatsachen nicht noch ein weiteres Mal ins Auge blicken wollte.
Sie hatten sich in Seainghams Arbeitszimmer zurückgezogen. Es war ein ziemlich kleiner Raum, ein Zufluchtsort, der um einiges behaglicher war als Grace Seainghams Kapelle. Die Wände waren mit glänzendem dunklem Holz getäfelt; in den Bücherschränken standen seltene Ausgaben geschützt hinter Glas; auf dem Schreibtisch stapelten sich Zeitungsausschnitte und Zeitschriften neben einer großen Karaffe Whisky und einer Apothekerlampe; den offenen Kamin schmückten wunderschöne Kacheln; die Couch war mit hellbraunem Leder, der Lehnstuhl mit abgewetztem dunkelbraunem Samt bezogen. Abgesehen von ein paar holzgeschnitzten Enten und Fasanen fehlte jeder überflüssige Zierat. Nichts sah hier nach künstlichem Arrangement aus; die Möbel, die Bücher, die Bilder – sie paßten wie zufällig perfekt zusammen und zeugten von Charles Seainghams selbstverständlicher Sicherheit in Geschmacksfragen.
Allein die Bilder waren schon ein kleines Vermögen wert. Ein Manet, ein Druck von Picasso, ein Munch. Und ein Parmenger. Das Bild stand auf einer Staffelei in der Mitte des Raums. Offenbar hatte Parmenger in diesem Zimmer daran gearbeitet.
«Es geht um Helen Minton», begann er zurückhaltend.
«Um Helen? Was ist mit ihr?»
Jury war nicht ganz sicher, ob das Zittern in Parmengers Stimme echt oder nur gespielt war. Aber er scheute sich immer noch, mit der Wahrheit herauszurücken, und fragte ausweichend: «Haben Sie nicht die Zeitungen gelesen?»
«Welche Zeitungen? Wir waren hier eingeschneit. Was ist denn mit Helen?»
«Ich muß Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen. Es hat einen Unfall gegeben. Helen ist tot.» Parmenger rutschte tiefer in seinen Sessel. Er erinnerte Jury an einen Menschen, der in einer Taucherglocke gefangen ist. Einen Moment lang hatte er den Eindruck, Parmenger würde gleich in Ohnmacht fallen.
Statt dessen erhob er sich, griff nach der Karaffe auf dem Tisch, füllte sein Glas mit Whisky, stürzte ihn hinunter und schenkte sich sofort einen neuen ein. Er hielt das Glas so fest umklammert, daß das Blut aus seinen Knöcheln wich.
«Unmöglich. Wie kann Helen tot sein?»
Jury betrachtete dies als rhetorische Frage. «Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?»
«Vor zwei Monaten.» Parmenger sah Jury aus tränenfeuchten Augen an. «Wie kann Helen tot sein?»
«Sie war Ihre Cousine?»
Als könnte ihn die Nähe seiner Arbeit von der bedrückenden Anwesenheit des Todes und der Polizei befreien, trat Parmenger vor sein Porträt von Grace Seaingham. «Ja», sagte er.
Jury wartete ab.
Nach einer Weile drehte Parmenger sich um. «Was zum Teufel hat das alles zu bedeuten? Wieso kommt ein Mann von Scotland Yard hierher und will mit mir über Helen reden?»
«Ich kannte sie. Leider nur sehr flüchtig. Sie war eine … charmante Frau.» Er beobachtete Parmengers Gesicht, als
Weitere Kostenlose Bücher