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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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möglichst auch vermeiden, sagen sie. Jedenfalls ging ich in die Bibliothek.»
    Die Bibliothek lag hinter der großen Eingangshalle neben dem Eßzimmer.
    «Wann war das?»
    «Kurz nachdem ich mich zurückgezogen hatte.» Sie schien an ihren Fingern nachzuzählen. «Fünfzehn Minuten später vielleicht.»
    «Haben Sie da jemanden gesehen? Jemanden aus der Dienerschaft vielleicht?»
    «Keine Seele, Superintendent.» Sie breitete die Arme aus. «Nichts zu machen, kein Alibi. Aber Tom …» Sie machte ein besorgtes Gesicht.
    «Der hat eins.»
    «Ich würde zu gerne wissen, was er dort draußen im Schnee eigentlich getrieben hat – mit Ihrem Freund Mr. Plant.» Wieder sah sie Jury prüfend an.
    Er grinste. «Sieht ganz nach Wintersport aus. Wie lange kennen Sie die Seainghams schon?»
    «Seit Ewigkeiten. Ich kannte sie schon, als Toms Eltern noch lebten. Die Seainghams waren mit ihnen befreundet; die Männer sind oft zusammen auf die Jagd gegangen.»
    «Und Sie? Waren Sie manchmal mit von der Partie?»
    «Wie raffiniert, Superintendent! Ja, ich kann schießen, falls Sie das wissen wollten.»
    Jury fiel auf, daß sie offenbar versuchte, ihren Stock so zu halten, daß man die Gichtknoten an ihren Fingern nicht sah.
    Mit ihren Schießkünsten war es wahrscheinlich nicht mehr weit her. Dennoch imponierte ihm Lady St. Leger. Nicht nur wegen ihrer Selbstbeherrschung und ihres inneren Feuers, sondern vor allem wegen ihrer Entschlossenheit, sich schützend vor den Marquis von Meares zu stellen, falls sein Alibi ins Wanken geraten sollte.
    Ihre grauen Augen funkelten ihn an. Sie erinnerten ihn ein wenig an Helen Mintons Augen. Er fragte sich, ob eine Frau ihn jemals so lieben würde, wie Tommy Whittaker von seiner Tante geliebt wurde.
    «Wären Sie so freundlich, Miss Rivington zu mir zu bitten, wenn Sie auf Ihr Zimmer gehen?»
     
     
    Sah man einmal davon ab, daß sie einen viel zu großen Flanellmorgenrock trug und ihr Haar völlig zerzaust war, hatte sich Vivian Rivington seit ihrer allerersten Begegnung vor etlichen Jahren, die unter ganz ähnlichen Umständen stattgefunden hatte, überhaupt nicht verändert. Es kam ihm mit einemmal vor, als habe er sich ihr letztes Zusammentreffen, das wegen des italienischen Verlobten an Vivians Seite kurz und peinlich ausgefallen war, nur erträumt. Damals war sie wie ein Model von de la Renta einherstolziert. Jetzt sah sie eher aus wie eine Vogelscheuche.
    Im Kamin zerbarst funkensprühend ein Scheit. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund erinnerte er sich plötzlich an sein Lieblingsbuch aus der Kindheit, in dem Maulwurf und Dachs zusammen in einem hohlen Baum saßen. Kein sehr schmeichelhafter Vergleich für sie beide, dachte er lächelnd. Fehlte nur noch Melrose Plant als Ratz, und das Trio wäre komplett. Er malte ein Herz und einen Pfeil, der es durchbohrte, in sein Notizbuch, und plötzlich war ihm nicht mehr nach Lächeln zumute. Er spürte eine unerträgliche Sehnsucht nach einer Geborgenheit, die er nie gekannt hatte.
    Sie sah so verdammt menschlich aus, wie sie in ihrem schäbigen Morgenrock und den alten Pantoffeln da stand, daß er sie am liebsten umarmt und geküßt hätte. Und wahrscheinlich nicht nur das.
    «Hallo, Vivian.»
    «Hallo. Falls Sie sich wundern: das Ding gehört Agatha.»
    «Welches Ding?» fragte er verdutzt. Es war nett, geradeso als hätten sie sich in den letzten Jahren täglich getroffen und könnten nun unbeschwert miteinander reden.
    «Dieser Morgenrock», sagte sie, und ihre Augen wurden schmal. «Sie starren ihn so komisch an. Ich habe meinen vergessen und mir deshalb einen von Agatha geliehen. Sie hat immer genug Kleidung für drei dabei.» Zum erstenmal in den vergangenen Stunden sah sie ihm nun offen ins Gesicht und deutete ein Lächeln an, das ihr jedoch anscheinend unangemessen erschien, denn gleich darauf runzelte sie die Stirn.
    «Er steht Ihnen. Aber bitte, setzen Sie sich doch.»
    Er verspürte große Lust, über ihren verdrießlichen Gesichtsausdruck zu lachen. Sie saß auf dem äußersten Rand des Sessels, den Grace Seaingham vor kurzem verlassen hatte. Beiden Frauen war anscheinend gemeinsam, daß sie sich für Sünden bestrafen mußten, die sie nicht begangen hatten, denn es standen weitaus bequemere Sessel im Raum. Aber wahrscheinlich war sogar eine Vergnügungsreise, zum Beispiel nach Italien, für Vivian eine ernste Angelegenheit. Und hier ging es immerhin um Mord.
    Er nahm sein Notizbuch vom Schreibtisch und bemerkte aus den

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