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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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sehen.
    Zum Beispiel schien sie keineswegs erschüttert, als Jury sie auf das Verhältnis ihres Mannes mit Beatrice Sleight ansprach. «Ich weiß schon seit einiger Zeit davon.»
    Ihre Direktheit war verwirrend. Es war, als verschlösse sie alle wirklich wichtigen Geheimnisse so tief und unantastbar in ihrem Inneren, daß es keine Rolle spielte, wie offen sie in bezug auf unbedeutende Dinge war.
    In ihrer sanften Art fuhr sie fort: «Eigentlich konnte ich’s ihm nicht mal verdenken. Nachdem der erste Schmerz vorbei war und ich mich damit abgefunden hatte.» Es klang, als schäme sie sich dafür, etwas so Kindisches wie Eifersucht empfunden zu haben.
    «Warum haben Sie sich überhaupt damit abgefunden? Warum haben Sie nichts dagegen unternommen?» Jury hatte sein Notizbuch gezückt, machte sich aber keine Aufzeichnungen. Er kritzelte nur darin herum. Das half beim Denken.
    Grace Seaingham neigte den Kopf zur Seite und lächelte nachsichtig. «Glauben Sie nicht auch, daß wir unser Schicksal gelassen hinnehmen sollten?»
    Er lächelte zurück. «Sie meinen, wir sollten unser Kreuz tragen und alles verzeihen, weil Gott es so will?»
    Sie lächelte noch immer. «Ja. Weil Gott es so will.»
    «Ich kenne Gottes Gedanken nicht.»
    Sie senkte den Blick auf ihre Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. Ihr eleganter weißer Morgenmantel aus Satin paßte gut zu ihrem blonden Engelshaar. Er fragte sich, ob sie immer Weiß trug.
    «Es war bestimmt nicht leicht für Sie, Miss Sleight hier im Haus zu haben. Ehrlich gesagt bin ich auch ziemlich überrascht, daß Sie sich so kurz vor Weihnachten noch Gäste eingeladen haben, Mrs. Seaingham.»
    «Es war mir im Grunde nicht recht. Aber Charles ist an London gewöhnt. Ich liebe die Einsamkeit hier, mein Mann nicht. Er hat gerne viele Leute um sich. Man kann einen Mann wie Charles nicht … einsperren.»
    Beim Gedanken an die hohen Steinmauern der Abtei kam Jury der Verdacht, daß sie ebendies gerne getan hätte. Sie hatte ihm erzählt, daß sie das Haus entdeckt und gekauft hatte. Ihr verstorbener Vater, ein wohlhabender Geschäftsmann, wie sie sagte, hatte ihr offensichtlich ein recht ansehnliches Vermögen hinterlassen.
    «Mrs. Seaingham, können Sie sich erklären, warum Miss Sleight in Ihrem Cape zur Kapelle wollte? Soviel ich gehört habe, war sie nicht besonders fromm.»
    «Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, daß sie mich um dieses Cape sehr beneidet hat. Glauben Sie, daß der – der Mörder es über sie geworfen hat, um ihre Leiche im Schnee zu verbergen?» Grace Seaingham sah ihn unsicher an. «Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum sie ermordet wurde.»
    «Sie war anscheinend nicht sehr beliebt … aber das ist nicht der Punkt. Ich will Ihnen bestimmt keinen Schrecken einjagen, aber es war doch Ihre Gewohnheit, spätabends noch in die Kapelle zu gehen, nicht wahr?»
    Nun kam ihre Selbstbeherrschung ins Wanken. «Sie wollen doch nicht etwa andeuten, daß ich diejenige war, die …?»
    Jury nickte. «Ihr Gedanke, daß der Pelz zur Tarnung über die Leiche geworfen wurde, wäre gar nicht so schlecht, wenn der Schuß nicht durch das Cape hindurchgegangen wäre. Sie muß es folglich getragen haben. Wie Sie schon sagten, wird die Galerie im Winter kaum betreten. Es war also dunkel. Nehmen wir an, jemand hat in der Dunkelheit gewartet, bis die Person, auf die er oder sie es abgesehen hatte, auftauchte, um die Schultern ein langes weißes Cape mit Kapuze: Sie. Nur waren Sie es nicht.»
    «Ich habe keine Feinde, Superintendent. Und gewiß nicht unter unseren Gästen. Das ist ganz ausgeschlossen.»
    «Was wissen Sie über Ihre Gäste? Kennen Sie sie schon lange?»
    «Einige ja, andere noch nicht so lange. Die Assingtons zum Beispiel habe ich erst vor kurzem kennengelernt. Und Bill MacQuade ist eigentlich weniger mein Freund als der meines Mannes.» Ein leichter Anflug von Röte auf ihrem Gesicht strafte sie Lügen. Jury fragte sich, ob sie bewußt gelogen oder die Wahrheit nur ihren Wünschen angepaßt hatte. Grace Seaingham machte auf ihn nicht den Eindruck einer Frau, die sich einen Liebhaber nahm – schon gar nicht unter den Augen ihres Mannes. «Er ist ein großartiger Schriftsteller», fuhr sie fort. «Charles lobt ihn in den höchsten Tönen. Und Charles ist unbestechlich. Keine Macht der Welt könnte ihn dazu bewegen, etwas gegen seinen Willen für gut zu befinden.»
    «Nicht einmal Ihre Majestät?» Jury lächelte und kritzelte vor sich hin.
    Sie sah ihn verdutzt

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