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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Augenwinkeln, daß sie verstohlen ihr Haar ordnete. Als er aufsah, ließ sie schnell die Hände sinken. Ihre persönliche Form der Eitelkeit bestand in der steten Sorge, sie könne eitel erscheinen. «Ich weiß nicht, warum Sie ausgerechnet mich verhören wollen. Die ganze Sache ist natürlich schrecklich. Aber Sie wissen doch genau, daß ich nichts damit zu tun habe.» Sie legte ihren Arm auf die kunstvoll geschnitzte Lehne. Was eine anmutige Bewegung hätte sein können, wurde von den zu kurzen Ärmeln des Morgenmantels zunichte gemacht.
    «Sind Sie nervös?» Jury malte ein weiteres großes dickbauchiges Herz und durchbohrte es mit einem Pfeil.
    «Ach, Unsinn. Wir sind erst seit gestern hier, oder besser gesagt seit vorgestern. Die Leute hier waren uns bis dahin vollkommen fremd. Charles Seaingham war der einzige, den ich kannte.» Er sah interessiert auf, und sie sagte hastig: «Aber nur ganz flüchtig. Wir sind uns nur ein einziges Mal vorher begegnet.»
    «Aha. Ich habe Sie auch nicht zu einem Verhör hergebeten. Was mich vor allem interessiert, ist Ihr Eindruck von den Leuten. Genauer gesagt: Wer hat es Ihrer Meinung nach getan?»
    Sie kratzte sich am Kopf und brachte ihre Frisur noch mehr in Unordnung. «Ich bin ganz … ich kann es einfach nicht fassen. Gestern beim Dinner saß sie mir noch gegenüber. Und jetzt ist sie tot.»
    Der traurige, verlorene Ausdruck, den Jury so gut kannte, brannte sich förmlich wie ein Abbild ihrer selbst in seinem Gesicht ein. Er senkte den Blick und starrte auf eine leere Seite in seinem Notizbuch. «Ich kenne das. Ein schreckliches Gefühl. Tut mir leid.» Er klappte das Notizbuch zu. «Vielleicht ist es sogar gut, daß Sie die Gäste nicht näher kennen. Dadurch können Sie objektiv urteilen.»
    Ihre Anspannung ließ wieder ein wenig nach; sie lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Ihre Pantoffeln waren ebenfalls einige Nummern zu groß. «Sie war nicht besonders sympathisch. Na ja, warum soll ich’s nicht unumwunden sagen? Sie war einfach ein Ekel.»
    «Beatrice Sleight?»
    «Wer sonst? Ist noch jemand ermordet worden?»
    «Nein. Aber sie trug Grace Seainghams Cape.»
    Vivian fuhr hoch. «Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß jemand Grace Seaingham ermorden wollte?»
    «Es sieht so aus. Beatrice Sleight wurde in den Rücken geschossen, als sie in Grace Seainghams Hermelincape zur Kapelle ging.»
    «Mein Gott», sagte Vivian leise. «Aber Grace ist doch so … so gut. Fast wie ein Heilige.»
    «Mag sein. Sie haben also nichts gehört? Keinen Schuß, keinen Schrei, nichts?»
    Vivian schüttelte den Kopf. «Die Schlafzimmer liegen ziemlich weit entfernt auf der anderen Seite des Hauses. Ich kann mir Beatrice gar nicht draußen im Schnee vorstellen. Sie war absolut keine Frischluftfanatikerin.»
    «Sie sind alle ungefähr zur gleichen Zeit zu Bett gegangen?»
    «Ja.» Sie spielte mit dem troddelverzierten Gürtel des Morgenrocks. Dann zuckte sie mit den Achseln. «Ich kann das alles nicht begreifen. Ich hatte nie das Gefühl, daß irgend jemand Grace nicht mochte. Ich hätte eher das Gegenteil angenommen. Außerdem war sie eine perfekte Gastgeberin. Als Beatrice Sleight pausenlos über Adelstitel räsonierte und auch Melrose nicht aussparte – übrigens, dies sind seine Hausschuhe –», fügte sie zusammenhanglos hinzu, «da wechselte Grace das Thema. Ich versteh das alles nicht. Aber sicherlich kann Ihnen Melrose mehr sagen. Sein gutes Gespür hat Ihnen ja schon häufiger weitergeholfen.»
    «Ja, es ist tragisch. Nun denn, danke, Vivian. Sie sind sicher müde und wollen ins Bett.»
    Aber sie blieb sitzen. «Wollen Sie’s nicht wissen?»
    «Was?» Er durchbohrte ein neues Herz mit einem neuen Pfeil.
    Die einsilbige, gleichgültige Frage brachte sie völlig aus dem Konzept.
    «Warum ich nicht geheiratet habe.» Sie wandte sich wieder den Troddeln zu.
    «Steht das in irgendeinem Zusammenhang mit dem Mord?» fragte Jury mit Unschuldsmiene. Warum er diesen Drang verspürte, sich für etwas zu rächen, das sie ihm in Wirklichkeit nie angetan hatte, wußte er selber nicht. Sadist, dachte er. Eigentlich war ihm eher zum Lachen zumute, als sie aufstand und in dem zu weiten Morgenmantel und den übergroßen Hausschuhen einen würdevollen Abgang versuchte. «Er schien doch ein ganz netter Bursche zu sein. Natürlich, ich habe ihn nur dieses eine Mal gesehen …»
    Doch da fiel schon die Tür hinter ihr ins Schloß.
     
     
    Die anderen waren zu Bett gegangen. Das

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