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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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der Priester gesagt, Gegensätze . Aus seiner Gesäßtasche zog er den Zeitschriftenumschlag, auf den Pater Rourke sein Viereck gezeichnet hatte, jenes Viereck, das umfassend genug war, um für alles ein Erklärungsmuster abzugeben. Er betrachtete das H in der einen Ecke. Dann zeichnete er in zwei andere Ecken ein D und ein R. Helen, Robin, Danny. Er dachte an die kecke junge Blondine auf Robbies Foto, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrem angeblichen Sohn hatte, und er dachte an die Bonaventura-Schule, die Kinder aufnahm, um die sich sonst niemand kümmerte.
    Er betrachtete das Viereck. Seine Gedanken kreisten jetzt um die vierte Ecke, die noch leer war: Er dachte an den Mörder.
    Wie lange er dort gesessen hatte, wußte er nicht, aber als er die Kapelle schließlich verließ, war es schon hell. Draußen, jenseits der verfallenen Mauer, lag ein dünner blaßgoldener Sonnenschimmer über dem verschneiten Moor, und der Schnee erstrahlte in einem zarten Violett, während das Licht langsam kräftiger wurde.
     
     
    «Stehen Sie auf», sagte Jury im Feldwebelton und reichte Melrose eine Tasse Tee. Der fuhr hoch und blinzelte schlaftrunken ins Licht.
    «Aufstehen? Was reden Sie da? Ich habe mich doch eben erst hingelegt. Mein Gott.» Er warf einen Blick aus dem Fenster. «Verdammt, es ist ja noch nicht mal richtig hell.» Er nippte an dem Tee. «Und diese Brühe ist kalt. Kalter Tee im Morgengrauen. Steht das Erschießungskommando bereit?»
    «Ruthven hat Sie mit seinen Rosinenbrötchen und heißen Bädern viel zu sehr verwöhnt. Na los, stehen Sie schon auf! Wir fahren zum ‹Jerusalem Inn›.»
    Plant ließ sich wieder in die Kissen sinken. «Sie sind verrückt. Den Verdacht hatte ich ja schon immer. Was haben Sie vor? Ein Snooker-Spiel im Morgengrauen? Bei Ihnen piept’s doch! Haben Sie vergessen, daß Sie und diese beiden spanischen Folterknechte uns bis fünf Uhr morgens auf Trab gehalten haben? Und jetzt ist es höchstens sechs. Und dann bringen Sie mir auch noch kalten Tee. Außerdem kann ich mich vor Müdigkeit kaum rühren.»
    «Ihr Mundwerk funktioniert aber schon wieder ganz gut. Also auf. Es ist schon nach sieben.»
    «Ohne meinen Tee stehe ich nicht auf.» Er reckte sich, beugte sich zum Klingelzug hinüber und läutete nach dem Mädchen. «Erst mal eine schöne heiße Kanne Tee. Und dann überleg ich mir, ob ich aufstehe. Wie können Sie nach der vergangenen Nacht überhaupt einen klaren Kopf haben? Was hat übrigens unser altes Mädchen, Vivian, erzählt? Hoffentlich gibt’s auch Toast zu meinem Tee.»
    Jury lächelte. Die scheinbar so beiläufige Frage nach Vivian war natürlich ein Köder. Jury biß bereitwillig an.
    «Unser ‹altes› Mädchen? Sie ist gut zehn Jahre jünger als wir.»
    «Ich kenne sie jedenfalls seit einer Ewigkeit», gab Plant gereizt zurück. «Wundern Sie sich nicht, daß sie diesen ‹gräßlichen Italiener›, wie Agatha ihn nennt, noch nicht geheiratet hat? Sie sind ihm damals in Stratford begegnet. Der Kerl mit den Fangzähnen.»
    «Doch, ich wundere mich.» Es hatte keinen Sinn, Melrose Plant anzutreiben. Der würde wie ein Stein im Bett liegenbleiben, bis man ihm seinen Tee gebracht hatte.
    «Sie platzen ja geradezu vor Neugier, wie? Mir will sie’s jedenfalls nicht erzählen. Aber ich glaube nicht, daß sie ihn jemals heiraten wird.»
    Es klopfte an der Tür, und ein hübsches Stubenmädchen trug ein Tablett herein. Als sie sah, daß Melrose nicht allein war, sagte sie: «Oh, entschuldigen Sie, Sir. Ich hole gleich noch eine Tasse.»
    Jury stand von seinem Platz am Fenster auf und nahm ihr das Tablett ab. «Nicht nötig. Mr. Plant braucht keine.»
    Das Mädchen sah entsetzt zu ihm hoch – der Größenunterschied war beträchtlich –, und ihre Hand nestelte unsicher an ihrer weißen Haube. Sie lächelte verlegen. «Sehr wohl, Sir. Vielen Dank, Sir.»
    Als sie davongeeilt war, sagte Melrose: «Sehr witzig. Geben Sie mir jetzt mein Tablett.»
    «Sehr wohl. Und außerdem gebe ich Ihnen zehn Minuten, um Ihren verdammten Tee zu trinken.» Jury nahm eine Scheibe Toast von dem Silberteller und lehnte sich kauend ans Fenster.
    Nachdem Plant schweigend seinen Tee getrunken hatte, stellte er die Tasse ab und sah Jury an. «Ins ‹Jerusalem Inn› wollen Sie? Lieber Freund, der Laden macht doch frühestens um elf auf.»
    «Ich weiß. Aber Robbie wird schon dasein. Er macht dort sauber. Außerdem wollte ich später noch nach Durham. Erinnern Sie sich? Heute ist Heiligabend.

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