Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
bekommen hatte, umgekommen war. Abgesehen von der angeknacksten Rippe wiesen seine Knochen keinerlei Spuren auf. Er war einen Meter dreiundsiebzig groß gewesen. Der Schädel war intakt. Zum Glück war noch genug »Materie« – unter anderem Knochenmark aus den langen Knochen – vorhanden, um zur besseren Identifizierung eine DNA-Analyse vornehmen zu können. Bis auf die fehlenden Weisheitszähne hatte er noch ein komplettes Gebiss, allerdings mit vielen Plomben.
Warum rechnete Wexford eigentlich bei der Identifizierung von Mr. X mit größeren Schwierigkeiten? Vielleicht hatte es etwas mit seiner angeblich vorhandenen Intuition zu tun, auch wenn er das selbst nicht akzeptieren konnte. Eigentlich sollte man sich immer auf die Fakten verlassen und auf sonst nichts. Für Mutmaßungen über die Person, zu der diese Knochen vielleicht einmal gehört hatten, war es noch viel zu früh, ganz zu schweigen von Vermutungen über denjenigen, der das Grab geschaufelt und die Leiche hineingelegt hatte. Einige seiner Gedankengänge teilte er Hannah dennoch mit, ehe diese zur Befragung der Bewohner der einzelnen Cottages aufbrach.
Wexford mochte Hannah. Sie war eine gute Polizistin, deren Wohlergehen ihm wichtig war. Deshalb ergriff er ihre linke Hand und wollte wissen, ob es angebracht sei, ihr zu gratulieren.
Sie errötete nicht. Dafür war Hannah viel zu beherrscht oder »cool«, wie sie es ausgedrückt hätte. Trotzdem nickte sie mit einem strahlenden Lächeln, was bei ihr nicht oft vorkam, und sagte: »Bal und ich haben uns gestern Abend verlobt.«
Nachdem Wexford gemäß einer traditionellen Etikette aus längst vergangenen Tagen seiner Hoffnung Ausdruck verliehen hatte, dass sie sehr glücklich werden möge, überlegte er, wie absurd es gerade in Anbetracht dieser antiquierten Maßstäbe war, dass sich zwei Menschen verlobten, nachdem sie schon ein Jahr zusammengelebt hatten. Aber wie hatte mal jemand gesagt? Die Verlobung sei die moderne Form der Hochzeit. Hannah und Bal würden vielleicht nie heiraten, sondern wie manche Leute jahrelang als Verlobte zusammenleben und Kinder bekommen, bis schließlich der Tod sie trennte oder ein anderer Mensch dazwischenkam.
»Wie geht es Bal?«
»Gut. Ich soll Ihnen einen schönen Gruß ausrichten.«
Wexford hatte Hannahs Verlobten, der inzwischen bei der Londoner Kripo arbeitete, nur ungern verloren. Die beiden hatten eine Wohnung in der Nähe der Southern Line, auf halber Strecke zwischen hier und Croydon. Bal war trotz gelegentlicher Anfälle von puritanischem Verhalten und wildem Heldentum ein wertvoller Mitarbeiter gewesen.
Bill Runge entpuppte sich als das genaue Gegenteil von dem störrischen Grimble, als umgänglicher und extrovertierter Mensch. Der untersetzte rundliche Mann sah ein Dutzend Jahre jünger aus als sein Freund und arbeitete im Forby Gartencenter. Hier fanden ihn auch Wexford und Burden, wie er hinter dem Haupteingang Tüten mit Blumenzwiebeln ordnete.
»Der arme Teufel«, sagte er. »Ehrlich gesagt, manchmal möchte ich ihm am liebsten sagen, er soll doch endlich Ruhe geben. Versucht hab ich es. Einmal hab ich es ihm gesagt. John, hab ich gesagt, gib doch auf. Das ist es nicht wert. Das Leben ist zu kurz. Verkauf das Grundstück doch so, wie es ist. Nimm das Geld, dann können sie dich alle mal gern haben, hab ich gesagt, aber er hat sich fürchterlich aufgeregt. Schließlich musste ich mich entschuldigen.«
»Mr. Runge, erzählen Sie uns etwas über den Graben, den Sie ausgehoben haben.«
Bill Runge klebte ein Preisschild auf eine Packung mit Anemonenknollen, wischte seine Hand an dem Plastikschurz ab, den er trug, und wandte sich ihnen zu. »Tja, also, wir haben diesen Graben für den Kanalanschluss gegraben. John, hab ich gesagt, lass es bleiben. Mach es nicht jetzt. Lass noch ein paar Wochen vergehen. Damit wir auf Nummer sicher gehen. Aber er war sich so sicher, der arme Teufel. Dann ist die Bombe geplatzt. Keine Baugenehmigung für vier Häuser. Nur eines durfte er bauen, genau an der Stelle, wo das Haus seines alten Herrn steht. Ich dachte, jetzt bekommt er einen Nervenzusammenbruch, und so kam es dann ja auch.«
»Ich nehme an, Sie haben den Graben für ihn aufgefüllt.«
»Eigentlich hab ich nicht gewollt, aber er hat sich fürchterlich aufgeregt und gemeint, es würde ihm das Herz brechen, wenn er auch nur in die Nähe des Grundstücks käme. Er meinte, er würde mich dafür bezahlen und – na ja, damals war es nicht so einfach. Meine
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